Mit Guy-Olivier Segond ist der letzte Genfer Radikale gestorben

Der Genfer Noch-Staatsrat Pierre Maudet ist daran, nicht nur das Erbe seines Mentors Guy-Olivier Segond, sondern auch die Erinnerung an eine Ära zu zerstören. Erinnerung an einen wahren Freisinnigen.

Christophe Büchi
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Guy-Olivier Segond befürwortete den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union.

Guy-Olivier Segond befürwortete den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union.

Franco Greco / Keystone

Es gibt Politiker, deren Tod besonders nachdenklich stimmt, weil mit ihnen eine Epoche und eine ganze Tradition zu Grab getragen werden. Guy-Olivier Segond, der Ende letzter Woche verstorben ist, gehört dazu. Der einstige Genfer Stadt-, Staats- und Nationalrat war der brillanteste und vielleicht auch letzte Vertreter jenes Genfer Freisinns, der in einem starken und sozialen Staat den besten Garanten des Fortschritts sieht und deshalb immer in dem Ruf stand, leicht links zu sein.

Diese typisch genferische Variante des Radikalismus ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Schlimmer noch: Sie ist drauf und dran, demnächst in einem grossen Eklat sich selbst zu zerstören. Denn der Genfer Noch-Staatsrat und Segond-Protégé Pierre Maudet, einst der Shootingstar des Genfer Freisinns, der inzwischen aus der FDP ausgeschlossen wurde und unlängst seinen Rücktritt aus der Regierung erklärt hat, will bei den Ergänzungswahlen im nächsten März für seine eigene Nachfolge kandidieren, vermutlich gegen einen offiziellen FDP-Kandidaten – mit dem Resultat, dass der Sitz wohl ans rot-grüne Lager geht. Selbstzerfleischung pur.

Radikale gegen Liberale

Guy-Olivier Segond, 1945 in eine protestantische Genfer Familie geboren, die unter anderem einen berühmten Bibelübersetzer hervorgebracht hat (die «Bible Segond» ist heute noch im ganzen französischen Sprachraum bekannt), war der Vertreter eines volksnahen Freisinns, der sich mehr als Verteidiger des kleinen Manns verstand denn als Sprachrohr der Wirtschaft.

Hierzu muss man allerdings sagen, dass der Kanton Genf bis vor kurzem eine starke liberalkonservative Partei besass, die sich als Wirtschaftspartei par excellence verstand. Die Radikalen dagegen, die sich 1846 unter ihrem Anführer James Fazy an die Macht geputscht und die alteingesessene liberale Bourgeoisie verdrängt hatten, waren in Genf immer in erster Linie eine kleinbürgerliche bis mittelständische Gruppierung: die Partei der Kleinunternehmer, Handwerker, Gewerbetreibenden. Während die Genfer Liberalen die alte Genfer Elite repräsentierten, fanden die Radikalen im aufstrebenden Bürgertum und nicht zuletzt unter den eingewanderten Deutschschweizern ihren Rückhalt.

Dieses spezielle politische und soziologische Umfeld hat Segond geprägt. Nach einem Lizenziat der Rechte trat er 1970 als juristischer Berater ins kantonale Erziehungsdepartement ein. Dieses wurde damals vom populären SP-Staatsrat André Chavanne geleitet, der sich einer radikalen Bildungsreform verschrieben hatte, unter anderem mit dem Ziel, die Hochschulen den Jungen aus einfachem Milieu zu öffnen. Gleichzeitig präsidierte Segond die reformierte Kirche des Kantons Genf und verdiente sich erste politische Sporen ab. 1979 wurde er in die Genfer Stadtexekutive gewählt, als Nachfolger der legendären Lise Girardin, der ersten Frau in einer Schweizer Stadtregierung und im Ständerat. 1983 und 1987 schaffte er die Wiederwahl mit Brio.

Umgarnte Journalisten

Obwohl die Stadtexekutive wenig Macht hat, kostete Segond sein Amt aus – zumal das Genfer Stadtpräsidium im Turnus bestellt wird, so dass sich jeder Stadtrat früher oder später mit dem schönen Titel eines «Maire de Genève» schmücken kann. Segond nutzte das prestigeträchtige und nicht sonderlich anstrengende Amt, um ein dichtes Netzwerk im Kanton und nicht zuletzt im internationalen Genf zu knüpfen.

Er bemühte sich auch sehr um die Journalisten; er gehörte zu den ersten welschen Politikern, die auf Anfrage pünktlich zurückriefen. Dies kam ihm später zugute, als Gerüchte über private Wirren und Steuerprobleme durch die Medienwelt schwirrten. Seine Beliebtheit wie auch die damals noch solide Omertà der Medienschaffenden verhinderten, dass etwas von diesen Gerüchten in die Öffentlichkeit drang. In einer Affäre berief Segond gleich selbst eine Pressekonferenz ein und legte den Journalisten Berge von Dokumenten vor die Nase, was die Medien prompt davon abhielt, die Nase hineinzustecken.

Weil sich der politische Jungstar in seinem Amt auch etwas langweilte, liess er sich 1980 zum Präsidenten der eidgenössischen Jugendkommission wählen. Dass mehrere Deutschschweizer Städte, vor allem Zürich, zu Beginn der achtziger Jahre heftige Jugendunruhen erlebten, während Genf ruhig blieb, wertete er als Beweis, dass die Stadt Genf vieles besser gemacht hatte. Die Jugendkommission machte Segond auch in der deutschen Schweiz bekannt und verschaffte ihm ein Sprungbrett ins Bundesparlament. 1987 wurde er in den Nationalrat gewählt, aber als urtypischer Genfer mit mässigem Geschick im Umgang mit Deutsch und Schweizerdeutsch wurde er in Bern nicht sehr glücklich. Einmal mehr zeigte es sich, dass sich das «génie genevois» nicht so leicht an die Aare exportieren lässt. Segond insistierte nicht und trat bereits nach drei Jahren wieder aus dem Nationalrat zurück.

Inzwischen war er in die Genfer Kantonsregierung gewählt worden, wo er das Gesundheitsdepartement übernahm. 1993 und 1997 wurde er wiedergewählt, beide Male mit der höchsten Stimmenzahl, denn als Vertreter des freisinnigen «Zentrums» konnte Segond sowohl im bürgerlichen als auch im linken Lager punkten. Gleichzeitig surfte er auf der Welle der EU-Begeisterung, die in den 1980er Jahren einen Grossteil der welschen Schweiz erfasste. Mit dem aus Basel stammenden Genfer Ökonomieprofessor und Nationalrat Peter Tschopp und dem Waadtländer Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz verkörperte Segond den EU-freundlichen Flügel des welschen Freisinns.

EU-skeptischer Backlash

Doch nach dem EWR-Debakel vom Dezember 1992 und angesichts des rasanten Aufstiegs der Blocherschen SVP wechselten die Zeiten. In der FDP Schweiz und auch im welschen Freisinn war jetzt eine Rückbesinnung auf die Realpolitik angesagt sowie ein EU-skeptischer Backlash. Segond blieb aber seiner fortschrittsgläubigen und auch etwas utopischen Gesinnung treu. Er arbeitete einen etwas elitären Vorschlag für die Schweizer Landesausstellung 2001 aus, der darin bestand, im Kanton Genf eine grosse Expo über Hirnforschung und Hirntechnologie zu veranstalten. Kritiker witzelten, der hochintelligente und auch reichlich selbstverliebte Politiker hätte am liebsten sein eigenes Gehirn ausgestellt. Das Projekt wurde nicht angenommen, stattdessen die Expo.02 am Neuenburger-, am Bieler- und am Murtensee ausgerichtet.

Auch nach seinem Rücktritt aus der Kantonsregierung 2001 sorgte Segond mit Denkanstössen wie dem Projekt «Smart Geneva» für eine Versorgung der Region mit Glasfasern immer wieder für Aufmerksamkeit, allerdings mit abnehmendem Erfolg. Selbst in der eigenen Partei war jetzt sein Einfluss nicht mehr so gross. Zwar führte Staatsrat François Longchamp und danach Pierre Maudet das Segondsche Erbe weiter, aber nach der Fusion der Radikalen und der Liberalen im Jahr 2009 rückte die Partei spürbar nach rechts.

Maudet – ein Trauerspiel

Das Trauerspiel um Pierre Maudet schliesslich musste Guy-Olivier Segond zutiefst traurig stimmen. Wie Segond galt Maudet lange Zeit als Wunderkind der Genfer Freisinnigen, und bei den Wahlen 2018 wurde er als Einziger schon im ersten Durchgang mit einem Glanzresultat gewählt und danach für fünf Jahre zum Regierungspräsidenten gekürt. Doch kurz darauf kam der Absturz. Es wurde bekannt, dass sich Maudet 2015 mitsamt Familie zu einem Gratis-Wochenende und Autorennen nach Abu Dhabi hatte einladen lassen.

Hätte er nun, als dies ruchbar wurde, seinen Kopf mit Asche bestreut und demütig Reue und Abbitte versprochen, überhaupt: wäre er in die Offensive gegangen wie weiland Segond, hätte er möglicherweise seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können. Stattdessen stritt er zuerst ab, verhedderte sich in Lügen und stand zuletzt als Verräter an all jenen da, die an ihn geglaubt hatten. Maudet wird dies wahrscheinlich mit dem Ende seiner politischen Karriere büssen müssen. Dies zeigt: Nicht alle, die es wollen, sind Segond. Es kommt vor, dass der Meister doch besser ist als der Zauberlehrling.