Wolfgang Schivelbusch ist tot :
Zwiespältiger Fortschritt

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Wolfgang Schivelbusch (1941 bis 2023), hier im Jahr 2014 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises im Thalia-Theater in Hamburg.
An den Dingen entlang und dem Vergleich zwischen Deutschland und Amerika: Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch ist mit 81 Jahren in Berlin verstorben.

Vor neun Jahren erst war Wolfgang Schivelbusch dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt. Bis dahin, seit 1973, war er zwischen New York und Berlin gependelt. Das gehörte zu einer Existenz als Privatgelehrter und Autor, der sich mit Projektstellen und Stipendien weitgehend außerhalb des akademischen Terrains einrichtete. Am Anfang stand das Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Frankfurt und Berlin.

Er hörte Adorno und Peter Szondi, promovierte bei Hans Mayer über Theater nach Brecht. Bei Szondi, so berichtet er in einem vor zwei Jahren erschienenen Gesprächsband, habe er die Methode des Vergleichens gelernt, die er später freilich weit über diese literaturwissenschaftlichen Anstöße hinaus ausdehnte; und Norbert Elias habe ihm den Weg zu den Dingen und ihrer Materialität gewiesen.

Die Wendung zu den Dingen

Es war diese Wendung zu den Dingen, die ihn in den Siebzigerjahren zu einem weit über Fachkreise hinaus gelesenen Autor einer neueren Kultur- und Mentalitätsgeschichte machte. Mit seiner „Geschichte der Eisenbahnreise“ (1977) und jener der künstlichen Beleuchtung, „Lichtblicke“ (1983), begab er sich auf die Spuren einschneidender Lebens- und Wahrnehmungsveränderungen des neunzehnten Jahrhunderts.

Wie Menschen und Maschinen eine gemeinsame Geschichte vorantreiben, konnte man daran lernen, ohne dass damals noch auf die Eigenwilligkeit nicht-menschlicher Akteure hingewiesen werden musste. Bei der Dingwelt im Fahrt aufnehmenden Kapitalismus blieb Schivelbusch allerdings nicht stehen, sondern wandte sich der intellectual history zu, mit Büchern über das Frankfurt der Zwanzigerjahre und das Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Kriegsniederlagen im Vergleich

Von Anfang der Zweitausenderjahre an entstanden dann vergleichende historische Studien: „Die Kultur der Niederlage“ (2001) verglich die Verarbeitung von Kriegsniederlagen in Deutschland 1918, Frankreich 1871 und dem amerikanischen Süden 1865. „Entfernte Verwandtschaft“ (2005) schließlich widmete sich einer vergleichenden Betrachtung von Faschismus, Nationalsozialismus und dem amerikanischem New Deal in der Zwischenkriegszeit. Sie brachte ihm erwartungsgemäß einige Kritik ein, aber Hans-Ulrich Wehler auch dazu, seine historischen Zunftgenossen aufzufordern, den „Königsweg des Vergleichs beherzter als bisher zu beschreiten“.

Mit seinem weit ausgreifenden „Versuch über die Konsumtion“ (2015) kam er noch einmal auf das Paar Mensch und Maschine zurück, wobei Letztere, in ihrer Rolle als Produzent der zu konsumierenden Dinge, für ihn die Oberhand gewann. Das passte zur durchgehenden Aufmerksamkeit für Verlusterfahrungen, die mit einer immer rasanter ablaufenden Modernisierung einhergingen.

Nostalgie für vergangene Zeiten ergab das nicht, aber dass er den Titel Reaktionär durchaus, „honoris causa“, akzeptieren würde, hielt er im erwähnten späten Gesprächsband, „Die andere Seite“ (2021), einmal fest. Am vergangenen Sonntag ist Wolfgang Schivelbusch mit 81 Jahren in Berlin gestorben.