Der österreichische Komponist Friedrich Cerha ist gestorben: Er war der Einzelgänger der musikalischen Avantgarde

Friedrich Cerha hat die Musik erneuert wie wenige und zugleich wieder zurückgebunden in die menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse.

Daniel Ender 4 min
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Der Komponist und Dirigent Friedrich Cerha 2015 an den Salzkammergut-Festwochen in Gmunden.

Der Komponist und Dirigent Friedrich Cerha 2015 an den Salzkammergut-Festwochen in Gmunden.

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Sein Werkkatalog reicht von avantgardistischen Kompositionen bis zu ironischen Wienerliedern und umfasst alle wichtigen Gattungen von Kammer- und Orchestermusik bis hin zu Chorwerken und Opern. Daneben hat der am 17. Februar 1926 in Wien geborene Friedrich Cerha als Lehrer beinahe eine ganze Generation von Komponisten betreut und auch als Interpret Geschichte gemacht. Besondere Verdienste erwarb er sich durch sein Eintreten für die Musik der Wiener Schule, von Arnold Schönberg, Anton Webern und – in mehrfacher Hinsicht – Alban Berg. Nun ist Cerha im Alter von 96 Jahren in Wien gestorben.

Am 24. Februar 1979 hat Alban Bergs unvollendete Oper «Lulu» in einer aufsehenerregenden komplettierten Fassung an der Nationaloper in Paris Premiere. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Pierre Boulez, Regie führt Patrice Chéreau. Die Vervollständigung des dritten Aktes stammt von Friedrich Cerha. In akribischer Kleinarbeit, die sich auf fast eineinhalb Jahrzehnte ausdehnte, hat er eine Fassung hergestellt, welche die bisher gängige Praxis, auf die beiden fertiggestellten Akte Bergs zwei Sätze der Sinfonischen Stücke aus der «Lulu-Suite» folgen zu lassen, ablöst. Damit werden alle von Berg intendierten Querverbindungen innerhalb der Oper, wird aber auch die Psychologie der Figuren in ihrer ganzen Komplexität nachvollziehbar.

Für seine musikhistorische Grosstat erntete Cerha nicht nur die verdienten Lorbeeren. Besonders aus dem eigenen Land kamen auch Anfeindungen, am vehementesten vom Komponisten Gottfried von Einem, der die Werkgestalt für sakrosankt und unantastbar hielt – ungeachtet der Tatsache, dass aus dem von Berg nachgelassenen Material seine Absichten bis hin zur Instrumentation zum allergrössten Teil klar hervorgehen. Berg-Kenner wie Ernst Krenek oder Theodor W. Adorno waren jedenfalls schon früh für eine Fertigstellung eingetreten.

Individueller Pluralismus

In zweifacher Hinsicht hatte Cerhas Einsatz für Berg seinen Preis. Schwerer als die Arbeitszeit, die wohl kaum ein anderer Komponist so grosszügig hätte opfern wollen, wog die Tatsache, dass er auf die Rolle als «Vollender der ‹Lulu›» festgelegt zu werden drohte und sein eigenes kompositorisches Schaffen lange Zeit unterschätzt wurde. Dabei schlug Cerha mit seinen eigenen Werken von Anfang an durchaus eigenständige Wege ein. Auf Kompositionen, die vom musikalischen Neoklassizismus und von der Wiener Schule ausgingen, folgte nach einem Besuch der Darmstädter Ferienkurse 1956 eine intensive Auseinandersetzung mit der seriellen Technik, der Cerha aber sogleich einen persönlichen Stempel aufdrückte, indem er die Aufsplitterung der Partituren zugunsten wahrnehmbarer Gestalten begrenzte.

Um 1960 schuf er dann mit «Fasce», «Mouvements» und vor allem dem grossen, siebenteiligen Orchesterstück «Spiegel» eine Gruppe von Werken, die mit traditionellen Gestaltungsmitteln und zugleich dem Serialismus brachen; sie basieren auf dem Prinzip der klanglichen Massestruktur und gehören zu seinen avantgardistischsten Arbeiten. Was Cerha hier – wahrlich am Puls der Zeit – entwickelte, erhielt später das Etikett «Klangflächen», nachdem zeitgleich, aber voneinander unabhängig der Pole Krzysztof Penderecki und der Ungar György Ligeti ganz ähnliche Phänomene verfolgt hatten. Berühmt wurde Ligetis Ausruf während eines Besuchs bei Cerha: «Was machst du da? Du schreibst ja mein Stück!»

Um die Spannung unter heterogenen Elementen ging es Cerha seit den «Exercises» für Bariton und Ensemble und dem darauf aufbauenden Bühnenstück «Netzwerk» (1981), das wie ein grosses Welttheater abstrahierte Grundsituationen der Gesellschaft zwischen Macht, Liebe und Geld thematisiert. Der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft steht dann im Zentrum der drei Opern «Baal» (1981), «Der Rattenfänger» (1987) und «Der Riese vom Steinfeld» (2002), die Cerhas Sympathie mit den sozial Schwächeren dokumentieren. Ironische Brechung des Volkstümlichen und Wienerischen unternehmen die «Keintaten» (1980/82) und «Eine Art Chansons» (1985/87), denen unter anderem Texte von Ernst Jandl zugrunde liegen.

Authentische Interpretationen

Der enorme Aufholbedarf in Bezug auf die musikalische Moderne, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich herrschte, veranlasste Friedrich Cerha gemeinsam mit dem Komponistenkollegen Kurt Schwertsik 1958 zur Gründung des Ensembles «die reihe», das sich sowohl Aufführungen der neuesten Musik als auch solchen von Werken der Zweiten Wiener Schule verschrieb; dabei kam es auch zu aufsehenerregenden Skandalen, zum Beispiel 1959 bei der Vorstellung des Klavierkonzerts von John Cage.

Dank Cerhas Freundschaft mit Josef Polnauer, der Schönbergs Assistent und «Vortragsmeister» beim Verein für musikalische Privataufführungen gewesen war, konnte er auf Informationen aus erster Hand zurückgreifen und die unmittelbare Expressivität und den Atem dieser Musik vermitteln – ganz im Gegensatz zu den Webern-Interpretationen, wie sie die Avantgarde in Darmstadt pflegte. Auch an das 1985 von Beat Furrer gegründete Klangforum Wien gab Cerha dieses Wissen weiter. Überhaupt war seine Schaffenskraft bis ins hohe Alter ungebrochen.