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Zum Tod von Wolfgang Kohlhaase Der Menschenerkenner

Wer etwas über die Deutschen erfahren will, muss seine Filme sehen: In »Solo Sunny« oder »Sommer vorm Balkon« schaute Wolfgang Kohlhaase den Bewohnern der DDR und der Bundesrepublik so genau aufs Maul und beim Leben zu wie kein Zweiter.
Ein Nachruf von Oliver Kaever
Filmkünstler Wolfgang Kohlhaase: Sein Kino hatte immer den konkreten Menschen im Blick

Filmkünstler Wolfgang Kohlhaase: Sein Kino hatte immer den konkreten Menschen im Blick

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Michael Handelmann / IMAGO

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Das deutsche Kino kennt keine Stars. Es gibt unter Schauspielern und Schauspielerinnen bekannte Namen, das ja. Bei Regisseuren und Regisseurinnen sind es dann schon bedeutend weniger. Die restlichen Gewerke arbeiten beinahe ausschließlich anonym.

Wolfgang Kohlhaase aber, den kannten doch erstaunlich viele Menschen. Obwohl er Drehbuchautor war. Den Begriff Star hätte er sicher ohnehin befremdlich gefunden, aber man kann sagen: Ein Film, für den Kohlhaase das Drehbuch geschrieben hatte, war ein Kohlhaase-Film. Und erst danach auch ein Konrad-Wolf-Film oder einer von Andreas Dresen.

Wolfgang Kohlhaase bei der Berlinale-Pressekonferenz zu seinem Film »Als wir träumten« (2015)

Wolfgang Kohlhaase bei der Berlinale-Pressekonferenz zu seinem Film »Als wir träumten« (2015)

Foto: Lukas Schulze / picture alliance / dpa

Ein Preis, hat Wolfgang Kohlhaase einmal gesagt, sei die angenehme Nachricht, dass man bemerkt worden sei. Er hat viele Preise gewonnen in seiner langen Karriere, die, zählte man sie in Filmen, von 1953 bis 2017 währte; der Nationalpreis der DDR ist darunter, der Helmut-Käutner-Preis, der Goldene Ehrenbär und das Bundesverdienstkreuz.

Kohlhaase ist also oft bemerkt worden, und das, obwohl seine Filme eher leise waren als laut, eher melancholisch als lustig und eher dem Leben abgeschaut als aus dem Alltag entführend. Kohlhaases Kino hatte immer den konkreten Menschen im Blick, und über ihn auch die Gesellschaft, in der er sich bewegte.

Das galt auch und vor allem für die Filme, die er in der DDR machte. Sein zweites Drehbuch für »Alarm im Zirkus« von 1954 brachte den ersten großen Erfolg. Ein Kinderfilm eigentlich, und dazu in seiner Darstellung der Zustände in West-Berlin propagandistisch angelegt. Aber auch voller menschlicher Wärme und Berlin-Atmosphäre. Da konnte man den italienischen Neorealismus spüren, Spuren von Filmen wie »Fahrraddiebe«, die Kohlhaase nach dem Krieg gesehen hatte und die ihn tief beeindruckten.

Mit dem Regisseur Gerhard Klein arbeitete Kohlhaase danach weiter zusammen, berühmt wurde das Gespann für Jugendfilme, das sozialistische Pendant zu den Halbstarkenfilmen des Westens. In »Berlin – Ecke Schönhauser« ist nicht alles gut im Sozialismus, junge Menschen begehren gegen die Konformität auf, und einer ruft: »Wenn ich an der Ecke stehe, bin ich halbstark, wenn ich Boogie tanze, bin ich amerikanisch, und wenn ich das Hemd über der Hose trage, dann ist es politisch falsch.«

Renate Krößner (hier mit Werner Schroeter) gewann 1980 den Silbernen Bären für ihre Hauptrolle in »Solo Sunny«

Renate Krößner (hier mit Werner Schroeter) gewann 1980 den Silbernen Bären für ihre Hauptrolle in »Solo Sunny«

Foto: Chris Hoffmann / picture alliance / dpa

Erstaunlich, was sich alles sagen ließ im Defa-Film, obwohl Kohlhaase auch später darauf bestand, dass er das Utopiepotenzial der DDR ernst nahm und nicht grundsätzlich mit dem Staat im Konflikt lag. Streit mit der Politik lieferte er sich trotzdem reichlich.

Sein letzter Jugendfilm »Berlin um die Ecke«, in dem er die frustrierte Belegschaft eines Metallbetriebs zeigte, die unter Materialmangel leidet und mit veralteten Maschinen arbeiten muss, wurde 1965 im Zuge des elften Plenums des ZK der SED verboten, gemeinsam mit elf weiteren Filmen.

Aber Kohlhaase ließ sich den Mut nicht nehmen, bestand weiterhin darauf, den Menschen aufs Maul und beim Leben zuzuschauen. Es folgten Filme mit dem Regisseur Konrad Wolf, der Kriegsfilm »Ich war neunzehn«, die Künstlermeditation »Der nackte Mann auf dem Sportplatz« und schließlich, natürlich, sein größter und wirkmächtigster Film in der DDR, »Solo Sunny«.

Gerade in seiner radikal persönlichen Geschichte über eine Sängerin, die sich mit der Ochsentour über die Dörfer und Bierfeste der Provinz über Wasser hält und von ihrem großen eigenen Song träumt, lag Kohlhaase, der neben Wolf als Co-Regisseur fungierte, quer zur offiziellen Politik, die den Film zwar nicht verbot, aber als uninteressantes Außenseiterdrama brandmarkte.

»Sie war nie unter den schönsten Städten der Welt, aber was sagt das darüber, wie in ihr gelebt wird?«

Wolfgang Kohlhaase über Berlin

Dabei traf »Solo Sunny« die Zuschauer der DDR so ins Mark wie wenige andere Filme, vielleicht weil sie sich im Scheitern und Wiederaufstehen der Sunny erkannt und gesehen fühlten. Vielleicht ist das Kohlhaases größtes Verdienst überhaupt. Und plötzlich wurde in diesem Film auch die für Außenstehende oft so konturlos erscheinende DDR greifbar und weit offen in den Träumen und Niederlagen ihrer Bewohner.

»Is’ ohne Frühstück«, sagt Sunny in einer berühmten Kohlhaase-Dialogzeile zu einem jungen Mann, den sie morgens aus ihrem Bett befördert. Und als der sich beschwert, fügt sie ungerührt hinzu: »Is’ auch ohne Diskussion.« Renate Krößner wurde 1980 auf der Berlinale für ihre furchtlose Darstellungskunst mit Silbernen Bären ausgezeichnet, »Solo Sunny« erhielt den Preis der Filmkritik.

»Sommer vorm Balkon« mit Inka Friedrich und Nadja Uhl (2005): Gesamtdeutscher »Solo Sunny«-Nachfolger

»Sommer vorm Balkon« mit Inka Friedrich und Nadja Uhl (2005): Gesamtdeutscher »Solo Sunny«-Nachfolger

Foto: ddp images

25 Jahre später, nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR, schrieb Wolfgang Kohlhaase ein Drehbuch, das wieder von einer jungen Frau und ihren Träumen erzählte. »Sommer vorm Balkon« hieß der Film, der Kohlhaases größter gesamtdeutscher Erfolg wurde.

Dass es ihm hier wieder gelang, mit scheinbar einfachsten Mitteln zur Essenz einer Zeit vorzudringen, zum vielleicht verbindenden Gefühl einer Gesellschaft, zeichnet ihn als großen Menschenkenner aus, völlig unabhängig von der politischen Situation, in der er arbeitete.

Dabei half Kohlhaase seine Liebe zu seiner Heimatstadt Berlin, die ihm keinen Anlass gab zu Lokalpatriotismus, sondern die Gelegenheit, die Menschen so genau zu beobachten, wie er es für seine Art der Arbeit für erforderlich hielt. »Ich bin in dieser Stadt groß geworden«, sagte er einmal über Berlin. »Sie war nie unter den schönsten Städten der Welt, aber was sagt das darüber, wie in ihr gelebt wird?«

Wie gelebt wird, das interessierte Wolfgang Kohlhaase immer am meisten, und wenige deutsche Filmkünstler sind dem Leben in den beiden deutschen Ländern und ihrer gemeinsamen Hauptstadt näher gekommen als er. Wer etwas erfahren möchte über die Menschen, die hier leben, muss seine Filme schauen. Sie werden bleiben. Wolfgang Kohlhaase aber ist gegangen. Er starb am 5. Oktober im Alter von 91 Jahren.