Auf den ersten Blick haben der 91-jährige Warren Buffett und der vierzig Jahre jüngere Michael Burry wenig gemeinsam. Buffett geht bei seinen Investitionen meist heimlich und ruhig vor und hat so ein Milliardenvermögen angehäuft. Burry - eigentlich ausgebildeter Arzt - wurde mit seiner grossen Wette gegen den US-Immobilienmarkt im Vorfeld des Crashs von 2008 bekannt und sorgt wiederholt mit kryptischen Tweets für Aufsehen - die er aber nach kurzer Zeit wieder löscht.

Das Orakel von Omaha setzt mit seiner Investmentfirma Berkshire Hathaway vor allem auf Unternehmen mit einem hohen Cashflow. So machte Apple Stand Ende März 2022 knapp 43 Prozent des Aktienportfolios aus. Die grösste Position im Portfolio von Michael Burry war zum gleichen Zeitpunkt hingegen eine Wette gegen Apple. Der Gründer von Scion Asset Management prognostiziert seit Monaten einen Einbruch der Aktienkurse.

Obwohl das auf den ersten Blick entgegengesetzte Anlageverhalten der beiden Investoren-Legenden etwas anderes erwarten lässt, wurden sie in ihrem Werdegang von ein und derselben Person und deren Anlagestrategie grundlegend geprägt: Von Benjamin Graham, dem geistigen Vater des Value-Investing - auch als wertorientiertes Investieren bekannt.

Benjamin Graham: Vater des Value Investing

Der US-Wirtschaftswissenschaftler und Investor Benjamin Graham erlebte den Börsenkrach von 1929 als Portfoliomanager. Im Jahr 1930 dachte er, das Schlimmste sei überstanden, und lieh sich Geld, um erneut zu investieren. Sein Fonds erlitt in der Folge einen Verlust von 70 Prozent. Er schnitt immerhin besser ab als der Markt, der im gleichen Zeitraum um 80 Prozent fiel.

Dieser Verlust bedeutete, dass Graham fünf Jahre lang kein Gehalt aus seinem Fonds bezog. Diese Erfahrung veranlasste ihn, der neben der Leitung seines Investmentfonds auch Vorlesungen an der Columbia University hielt, eine spezielle Anlagestrategie zu entwickeln, die heute als Value Investing bezeichnet wird.

Seine Anlagestrategie machte er mit zwei Büchern der Öffentlichkeit zugänglich: 1934 veröffentlichte Graham zusammen mit David Todd das Buch "Security Analysis". "The Intelligent Investor", das von Graham alleine geschrieben wurde, erschien 1949. Buffett, der Vorlesungen bei Graham besuchte, bezeichnete letzteres als das "mit Abstand beste Buch, das je über das Investieren geschrieben wurde". "The Intelligent Investor" steht ebenfalls zuoberst auf der Bücherliste von Michael Burry.

Innerer Wert versus Marketwert

Graham bezeichnet das Value Investing als das klare Gegenteil zu spekulativeren Strategien wie "Momentum Trading" oder "Chartanalyse". Er widerspricht in seinen Grundannahmen klar der Ansicht, dass Aktienkurse effizient seien. Würde der Aktienkurs eines Unternehmens jederzeit seinem wahren Wert entsprechen, könnte niemals jemand davon profitieren, dass es von Zeit zu Zeit Unterbewertungen am Markt gibt.

Graham gab den Schwankungen an der Börse in "The Intelligent Investor" mit dem manisch-depressiven Menschen "Mr. Market" ein Gesicht. Kauf- und Verkaufskurse von Mr. Market beruhten oftmals nicht auf rationalen Überlegungen, sondern seien von Emotionen getrieben. Der intelligente Investor nutze dies aus, um Aktien günstig zu kaufen.

Doch was heisst günstig? Beim Value Investing ist der innere Wert einer Aktie unabhängig von ihrem Marktpreis. Der innere Wert wird dabei bei Grantham durch fundamentale Kriterien wie Liquidationswert des Unternehmens, Kurs-Gewinn-Verhältnis, Kurs-Buchwert-Verhältnis, Verschuldungsgrad, Ertragskraft in der Vergangenheit und Dividendenrendite ermittelt. Projektionen in die Zukunft seien aufgrund der Unvorhersehbarkeit von Inflationsraten, geopolitischen Kriegen und wirtschaftlichen Rezessionen aber schwierig. 

Kapitalschutz dank Sicherheitsmarge

Ist der innere Wert höher als der Marktwert - die Aktie ist auf dem Markt unterbewertet -, sollte der Anleger kaufen und halten, bis eine "Mean Reversion" eintritt. Die Mean-Reversion-Theorie besagt, dass sich der Marktpreis und der innere Wert im Laufe der Zeit annähern werden. Zu diesem Zeitpunkt wird der Aktienkurs seinen fairen Wert widerspiegeln.

Ein hoher Unterschied zwischen innerem Wert und Marktwert bietet auch eine Sicherheitsmarge: Sie schützt den Anleger sowohl vor Fehlentscheidungen als auch vor Marktabschwüngen. Da der faire Wert nur schwer genau zu berechnen ist, gibt die Sicherheitsmarge dem Anleger Spielraum für Investitionen.

Die Sicherheitsmarge unterstützt für Graham das Hauptanliegen des Value Investing: den Kapitalschutz. Burry sagte dazu:  "Meine gesamte Aktienauswahl basiert zu 100 Prozent auf dem Konzept der Sicherheitsmarge". Und auch Buffett betonte schon oftmals die Bedeutung dieses Prinzips: "Wenn man eine Brücke baut, besteht man darauf, dass sie 30'000 Pfund tragen kann, aber man fährt nur 10'000 Pfund schwere Lastwagen darüber. Das gleiche Prinzip gilt für Investitionen."

Anlagegrundsätze, unabhängiges Denken und emotionale Disziplin

Und gerade diese Konzentration auf den inneren Wert erklärt, warum Graham - und schliesslich auch Buffett und Burry - eine grosse Skepsis gegenüber Wachstumswerten haben. So seien diese meist zu teuer, und es sei schwierig deren hohen Bewertungen langfristig zu rechtfertigen. Zudem sei es für Unternehmen mit zunehmender Grösse schwierig, das hohe Wachstum aufrechtzuerhalten.

Für Graham sind das unabhängige Denken und emotionale Disziplin grundlegend für das erfolgreiche Investieren. Die Grundsätze erlaubten es unter anderem, in Marktschwächen zuzukaufen und in Aufwärtsphasen intelligent zu verkaufen. Nach Graham sollten Aktien verkauft werden, wenn sie nach dem Einstieg um über 50 Prozent gestiegen sind oder nach Ablauf von zwei Jahren. Ebenso empfiehlt er den Verkauf, sobald Dividenden-Zahlungen eingestellt werden oder die Gewinne sich deutlich verschlechtern.

Die Anlagestrategie, zu kaufen, wenn alle anderen verkaufen, hat ebenfalls Warren Buffett verinnerlicht. Das galt während und nach der Finanzkrise, als er bei Goldman Sachs und Bank of America zulangte. Und Burry zeigte stählerne Nerven, als er trotz heftiger Proteste und Drohungen seiner Investoren ab 2005 mit Credit Default Swaps gegen den US-Immobilienmarkt wettete - vor dem grossen Zahltag musste er den Banken grosse Prämienbeträge bezahlen.

Persönlichkeit bestimmt Anlagestil

Burry und Buffett verbindet das streng traditionelle Verständnis von Wert - aus diesem Grund stehen sie auch Kryptowährungen ablehnend gegenüber. Doch etwas unterscheidet beide Börsengurus voneinander: Während Buffett meist langfristige Investments tätigt und nach der Devise "Buy and Hold" agiert, zielt Burry oftmals auch auf kurzfristige Investments und verkauft auch Aktien leer. Zudem benutzt er oftmals Derivate wie Optionen oder Futures, die Buffett oder Graham strikt ablehnen.

Trotz dieser unterschiedlichen Anwendung des Value Investing haben beide Investorenlegenden einen eindrücklichen Erfolgsausweis - Buffett weist zwischen 1965 und 2020 eine jährliche Rendite von 20 Prozent aus, Scion Capital von Burry erreichte zwischen 2000 und Juli 2008 ein Plus von 490 Prozent. Burry sagte einst: "Wenn Sie ein grossartiger Investor sein wollen, müssen Sie den Stil an Ihre Persönlichkeit anpassen". Er wies damit darauf hin, dass Buffett seinen Mentor Benjamin Graham nicht kopiert, sondern seinen eigenen Investmentansatz und seine eigene Philosophie entwickelt hat.

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