Geht es nach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, so sollten sich über 60-Jährige schnellstmöglich ihre empfohlene vierte Coronaimpfung holen. "Warten auf angepasste Impfstoffe dauert zu lange und ist zu riskant." Die Vorbereitungen dafür laufen eigentlich schon seit Monaten auf Hochtouren. Schon im Frühjahr sollte ein an Omikron angepasster Impfstoff auf den Markt kommen, da die bestehenden Vakzine gegen Covid-19 deutlich weniger wirksam gegen diese hochansteckende Variante sind. Nun wird es Herbst und die Bundesregierung setzt große Hoffnungen in eine neue Auffrischungskampagne. Doch gerade ältere und gefährdete Menschen sollten nicht auf die neuen Booster warten, mahnen viele Experten. Zumal sie nach Einschätzung mancher Wissenschaftler nicht der erhoffte Gamechanger sein dürften.

"Da die Bevölkerung bereits weitestgehend durch eine Impfung oder eine Infektion mit den ursprünglicheren Virusstämmen grundimmunisiert ist, wird sich die Zugabe von bestimmten Omikron-Varianten in weiteren Booster-Anwendungen wahrscheinlich nicht so sehr auswirken, wie man es sich für die Kontrolle der Pandemie wünscht", sagt Sebastian Ulbert, Abteilungsleiter Impfstoffe und Infektionsmodelle am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig. In Berlin will man sich aber für alle Fälle wappnen: Das Gesundheitsministerium geht davon aus, dass im Herbst sowohl ein an die Omikron-Subvariante BA.1 angepasster Impfstoff zur Verfügung steht, als auch einer gegen die Untervariante BA.5. Die Variante BA.1 hatte im vergangenen Winter für einen massiven Anstieg der Infektionen gesorgt, inzwischen hat in Deutschland aber BA.5 andere Varianten fast vollständig verdrängt.

Von der Opposition kommt Kritik an den Plänen der Regierung: "Minister Lauterbach kauft ohne Rücksicht auf Kosten weiter ein, obwohl das Land auf eine Wirtschaftskrise zusteuert. Schon jetzt müssen massive Impfstoff-Überschüsse verworfen werden, weil die Nachfrage minimal ist und die Impfkampagne des Ministers seit Monaten stagniert", sagt CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA gab kürzlich zu bedenken, dass niemand sagen könne, welche Coronavariante im Herbst vorherrscht.

Nach ihrer Einschätzung könnten an BA.5 angepasste Impfstoffe für die geplanten Herbst-Impfkampagnen zu spät fertig sein. Die EMA ließ daher zuletzt eine Präferenz für die von Moderna sowie BioNTech und Pfizer gegen die BA.1-Variante angepassten Impfstoffe durchblicken, an denen diese seit Ende 2021 arbeiten und von denen schon erhebliche Mengen fertiggestellt sind. Denn während die bestehenden Impfstoffe zwar weiter einen guten Schutz vor Krankenhausaufenthalten und Todesfällen bieten, hat ihre Wirksamkeit mit der Weiterentwicklung des Virus und neuen Varianten abgenommen.

Die bilaventen Vakzine kommen

Erste Daten zeigten, dass eine Booster-Impfung mit den angepassten Vakzinen eine stärkere Immunreaktion auslöste als die bestehenden Impfstoffe. Dabei schnitten sie auch gegen die Varianten BA.4 und BA.5 gut ab - allerdings in geringerem Maße als gegen BA.1. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat sich bereits für angepasste Impfstoffe zur Bekämpfung von BA.4 und BA.5, die zusammen in den USA das Infektionsgeschehen dominieren, ausgesprochen und erwartet dafür auch keine neuen klinischen Studien mehr. Insgesamt haben die Regulierungsbehörden signalisiert, dass sie eher bivalente Vakzine bevorzugen, also solche, die sich neben Omikron auch gegen die ursprüngliche Wuhan-Variante des Virus richten. Man hofft, dass die Kombination dazu beiträgt, die Immunität gegen neue Varianten zu erweitern und gleichzeitig die ursprüngliche Immunantwort zu erhalten.

Moderna setzt auf gleich zwei bivalente Booster für den Herbst: Neben dem bereits in einer großen klinischen Studie getesteten Kandidaten - eine Kombination aus seinem ursprünglichen Vakzin Spikevax und einem gegen BA.1. gerichteten Impfstoff - auch auf einen Booster, der neben Spikevax gegen BA.4/5 gerichtet ist. Auch Biontech und Pfizer bereiten sich auf eine Umstellung ihrer Produktion auf BA.4 und BA.5 vor. Die Partner gehen davon aus, bis Anfang Oktober signifikante Mengen zur Verfügung zu haben. Bei der EMA schlossen die Unternehmen am Dienstag die Einreichung des Zulassungsantrags für ihren an BA.1 angepassten bivalenten Impfstoffkandidaten ab.

WHO: «Holen Sie sich jetzt den zweiten Booster»

Aber auch die Weltgesundheitsorganisation WHO rät Menschen über 60 Jahren, nicht bis zum Herbst zu warten. Denn in der vergangenen Woche wurden in Europa fast drei Millionen neue Covid-Fälle gemeldet, was fast die Hälfte aller neuen weltweit ausmacht. Die Zahl der Krankenhausaufenthalte hat sich im gleichen Zeitraum verdoppelt. "Die Zeit läuft ab. Die Immunität lässt nach, wir haben eine BA.5-Untervariante, die einen großen Vorteil bei der Übertragung hat", sagt WHO-Regionaldirektor Hans Kluge gegenüber Reuters. "Holen sie sich jetzt ihren zweiten Booster." Wenn es im Herbst einen angepassten Impfstoff gäbe, könnte dieser drei bis sechs Monate nach der letzten Impfung verabreicht werden. In Deutschland haben nur 61,8 Prozent der Menschen eine Auffrischungsimpfungen erhalten, 7,6 Prozent erhielten einen zweiten Booster. Gut 76 Prozent sind grundimmunisiert. Die EU-Gesundheitsbehörden empfehlen inzwischen allen über 60-Jährigen eine zweite Corona-Auffrischungsimpfung, "so schnell wie möglich".

Der Immunologe Leif Erik Sander von der Charite wies indes vor kurzem im NDR Corona-Podcast darauf hin, dass es langfristig nicht das Ziel sein könne, die breite Bevölkerung immer wieder nachzuimpfen. Eine Lösung für dieses Problem gebe es bisher aber nicht, auch nicht mit den neuen Boostern. "Die an die BA.1-Variante angepassten Impfstoffe werden einen kleinen zusätzlichen Nutzen bringen, aber das wird meines Erachtens nicht der Gamechanger", sagte Sander.

Impfstoffexperte Ulbert kritisiert, dass die Vorstellung, dass der Booster nur auf die jeweils zirkulierenden Varianten angepasst werden müsse, um die Bevölkerung dann optimal zu schützen, zwar verständlich, aber auch etwas naiv sei. "Das Immunsystem funktioniert so nicht. Die Bevölkerung hat eine massive Grundimmunisierung durch das Ursprungsvirus, sei es durch Impfung und/oder Infektion, und diese überwiegt dann auch sehr stark bei der Booster-Reaktion." Es sei zudem eine natürliche Eigenschaft des Immunsystems, dass es sein Repertoire an Immunantworten auf künftige potenzielle Varianten desselben Erregers ausweiten könne. "Insofern dürfte die Wahl der Omikron-Subvariante weniger kritisch sein als die Grundimmunisierung und der damit einhergehende Schutz vor schwerer Erkrankung."

Der Immunologe Andreas Radbruch, Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina und wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Rheuma-Forschungszentrum, geht gar davon aus, dass es für die Varianten keine spezielle Auffrischungsimpfung braucht: "Angepasste Impfstoffe, egal wie angepasst, werden ihr Ziel verfehlen, uns effektiv vor Infektion durch BA.5 zu schützen." Er erwartet, dass die Infektionswelle gemildert wird, indem die meisten sowohl geimpft als auch genesen sind. "Einen neuen Impfstoff brauchen wir erst, wenn ein SARS-CoV-3 auftaucht, das so verschieden von SARS-CoV-2 ist wie SARS-CoV-2 von SARS-CoV(-1). Ein Virus, das für unser Immunsystem also völlig neu ist."

(Reuters)