Mit Judith Stamm ist eine Ikone der Gleichstellungsbewegung gestorben

Die frühere Luzerner CVP-Nationalrätin Judith Stamm ist 88 Jahre alt geworden. Sie prägte die Frauenpolitik in der Schweiz während Jahrzehnten.

Erich Aschwanden 4 min
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Die Luzerner CVP-Vertreterin Judith Stamm setzte sich für die Schwachen der Gesellschaft ein.

Die Luzerner CVP-Vertreterin Judith Stamm setzte sich für die Schwachen der Gesellschaft ein.

Alessandro Della Valle / Keystone

Nachgeben war für Judith Stamm nie eine Option. Diesen Charakterzug offenbarte die Juristin auch in der wohl umstrittensten Stunde ihrer politischen Karriere. Als die CVP 1986 Arnold Koller und Flavio Cotti als offizielle Kandidaten für die Nachfolge der Bundesräte Kurt Furgler und Alphons Egli nominierte, dachte sie nicht daran, ihre eigene Bewerbung zurückzuziehen. Wohlwissend, dass dies von vielen als Provokation aufgefasst würde.

Stamm weigerte sich, als sie vom Fraktionspräsidenten der CVP aufgefordert wurde, eine Loyalitätserklärung zu unterschreiben und sich hinter die offiziellen Kandidaten zu stellen. So viel Aufmüpfigkeit kam in der von Männern und Traditionen dominierten Vereinigten Bundesversammlung schlecht an. Mit 49 Stimmen erreichte sie immerhin ein Achtungsresultat.

Polizistin statt Gerichtsschreiberin

Die 1934 in Schaffhausen geborene und in der Stadt Zürich aufgewachsene Politikerin lernte das Kämpfen früh. Nach ihrem Rechtsstudium hätte die Tochter eines reformierten Bahnbeamten und einer katholischen Hausfrau gerne Karriere als Gerichtsschreiberin gemacht. Dies blieb ihr jedoch verwehrt, weil es für dieses Amt damals im Kanton Zürich die politischen Rechte brauchte, und die hatten die Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht.

Judith Stamm freut sich im November 1996 über ihre Wahl zur Nationalratspräsidentin.

Judith Stamm freut sich im November 1996 über ihre Wahl zur Nationalratspräsidentin.

Lukas Lehmann / Keystone

Nach dieser beruflichen Enttäuschung trat Judith Stamm 1960 ins Polizeikorps des Kantons Luzern ein. Ihr Talent blieb nicht lange verborgen, so dass sie nach kurzer Zeit als Polizeiassistentin zur ersten Polizeioffizierin der Schweiz wurde. Ein neues Tätigkeitsfeld fand sie später bei der Jugendanwaltschaft. In diesen Funktionen wurde Stamm mit den Schattenseiten des Lebens wie Gewalt innerhalb von Familien, Drogenelend, Suiziden und Jugendkriminalität konfrontiert. Die berufliche Arbeit hat sie geprägt und dafür gesorgt, dass ihr Wirken stets von einer tiefen Menschlichkeit geprägt war.

In der Politik gehörte Stamm auf fast allen Ebenen zu den Pionierinnen. Unmittelbar nach der Einführung des Frauenstimmrechts wählten sie die Luzernerinnen und Luzerner 1971 als Vertreterin der CVP ins Luzerner Kantonsparlament. 1983 schaffte sie den Sprung in den Nationalrat. Und dies, obwohl sie aus Sicht der Partei kein bequemes Mitglied war. Sie setzte sich zum Ärger des konservativen Establishments für die Fristenlösung und die Herabsetzung des Schutzalters auf 16 Jahre ein. Geradlinigkeit und ein offenes Ohr für die Schwachen kennzeichneten ihr Leben.

Dank der Unterstützung vieler Frauen wurde Judith Stamm (links) 1986 als Bundesratskandidatin nominiert.

Dank der Unterstützung vieler Frauen wurde Judith Stamm (links) 1986 als Bundesratskandidatin nominiert.

Keystone

Während der sechzehn Jahre im Nationalrat kämpfte Stamm mit vollem Engagement für die Rechte der Frauen. So reichte sie 1983 einen Vorstoss für die Durchsetzung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung ein. Dieser führte schliesslich fünf Jahre später zur Gründung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau. 1989 wählte der Bundesrat sie zur Präsidentin der eidgenössischen Kommission für Frauenfragen. Die NZZ bezeichnete sie deshalb einmal als «Ikone der schweizerischen Gleichstellungsbewegung».

Einflussreiche Nationalrätin

Judith Stamm war in den 1980er und 1990er Jahren eine der prägenden Figuren unter der Bundeskuppel, deren Wirken weit über die Gleichstellungspolitik hinausging. Wenn die CVP-Politikerin sich für ein Anliegen einsetzte, konnte sie oft Koalitionen über die Parteigrenzen hinweg schmieden.

So sorgte sie 1987 mit einer Motion dafür, dass der Bundesrat zum ersten Mal untersuchen liess, wie viele Kinder in der Schweiz seelisch, körperlich und sexuell misshandelt werden. Spuren hinterlassen hat die Luzernerin auch als Nationalratspräsidentin des Amtsjahres 1996/1997 –obwohl sie das Amt als Belastung empfand, wie sie später eingestand. Als höchste Schweizerin setzte sie durch, dass das Büro künftig mit «Präsidentin» statt «Präsident» angeschrieben werden muss, wenn eine Frau der grossen Kammer vorsteht.

Judith Stamm (Dritte von links) gehörte im Bundeshaus zu den einflussreichen Politikerinnen ihrer Generation. Unser Bild zeigt sie mit Moritz Leuenberger, Monika Weber und Vital Darbellay (von links).

Judith Stamm (Dritte von links) gehörte im Bundeshaus zu den einflussreichen Politikerinnen ihrer Generation. Unser Bild zeigt sie mit Moritz Leuenberger, Monika Weber und Vital Darbellay (von links).

Keystone

Auch nach ihrem Rücktritt aus der institutionellen Politik engagierte sich Stamm für die Gleichstellung. Manchmal konnte sie nicht begreifen, warum sich junge Parlamentarierinnen nicht ebenso stark wie sie für die Rechte der Frau einsetzten. «Manchmal war ich wie ein Soldat im Schützengraben, der nicht merkt, dass Friede herrscht», erklärte sie in einem Interview 2013. Sie störte sich daran, dass viele Frauen immer noch vor dem Einstieg in die Politik zurückschreckten, weil sie daran zweifelten, ob sie einem politischen Amt überhaupt gewachsen seien.

Kämpferinnen für die Rechte der Frau: Judith Stamm (rechts) begrüsst 2007 auf dem Rütli die damalige Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey. Im Hintergrund Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi.

Kämpferinnen für die Rechte der Frau: Judith Stamm (rechts) begrüsst 2007 auf dem Rütli die damalige Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey. Im Hintergrund Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi.

Alessandro Della Bella / Keystone

Von 1998 bis 2007 präsidierte Judith Stamm die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) und die Rütlikommission, die die Bundesfeier auf der Rütliwiese organisiert. Sie war damit die erste Frau an der Spitze der altehrwürdigen Organisation, die 1810 gegründet wurde. Auch in dieser Position war ihre keine Ruhe vergönnt. Aufgrund von Störaktionen von Rechtsextremen musste die SGG in diesen Jahren den Zutritt zur Rütliwiese einschränken. Bei ihrem Rücktritt als SGG-Präsidentin im Herbst 2007 wurde Stamm neben zwei weiteren Zentralschweizer Politikern und SGG-Mitgliedern Ziel von Sprengstoffanschlägen auf Briefkästen. Verletzt wurde niemand.

Judith Stamm ist am 20. Juli 2022 nach einem ereignisreichen Leben in Luzern gestorben.