Die Währungshüter um EZB-Chefin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag, den sogenannten Hauptrefinanzierungssatz überraschend deutlich um einen halben Punkt auf 0,50 Prozent zu erhöhen. Die Zinswende der EZB gilt als historisch: Zuletzt hatte sie 2011 den Preis des Geldes verteuert.

Analysten und Wirtschaftsvertreter sagten dazu in ersten Reaktionen:

ULRICH KATER, CHEFÖKONOM DER DEKABANK

"Der EZB-Rat ist über seinen Schatten gesprungen und entgegen seiner bisherigen Kommunikation gleich mit einem halben Prozentpunkt in die Zinserhöhung gestartet. Die Zinsen müssen jetzt zügig Richtung 1,5 Prozent angehoben werden. Ein guter Teil hiervon sollte passieren, solange die Wirtschaftsdaten im Sommer und Herbst noch einigermassen gut sind. Wenn die Wirtschaft im Winterhalbjahr wegen Energieproblemen stagniert, sind Zinserhöhungen schwierig. Obwohl die EZB die weiteren Zinsschritte von den künftigen Wirtschaftsdaten abhängig gemacht hat, ist ein weiterer grosser Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten im September wahrscheinlich."

ULRICH WORTBERG, LANDESBANK HESSEN-THÜRINGEN

"Die EZB leitet die Zinswende in einer sehr schwierigen Zeit ein. Einerseits setzt die deutlich oberhalb des EZB-Ziels liegende Inflation von zuletzt 8,6 Prozent die Währungshüter unter Handlungsdruck, andererseits sind die Konjunkturrisiken gestiegen. (...). Letztlich scheint sie sich aber eher der Preisniveaustabilität verpflichtet zu fühlen und daher sind weitere Zinserhöhung zu erwarten. Bezüglich des TPI bleibt abzuwarten, wie es ausgestattet ist und ob das Instrument bei den Marktteilnehmern überzeugen kann. Die Regierungskrise in Italien könnte sich bereits als Lackmustest für das neue Instrument erweisen. Mit der Aussicht auf Neuwahlen sind die Spreads heute deutlich gestiegen."

CARSTEN BRZESKI, ING BANK

"Die Einigung auf das TPI mussten die Tauben mit einer stärkeren Zinserhöhung bezahlen. Wir alle wissen, dass die heutige Zinserhöhung die Inflation kurzfristig nicht senken wird (...). Die Zinserhöhung sowie potenzielle weitere Erhöhungen zielen alle darauf ab, die Inflationserwartungen zu senken und den beschädigten Ruf und die Glaubwürdigkeit der EZB als Inflationsbekämpfer wiederherzustellen."

THOMAS GITZEL, VP BANK 

"Das neue Anti-Fragmentierungswerkzeug lässt (...) den Verdacht aufkommen, dass die europäischen Währungshüter statt Geld- auch Fiskalpolitik betreiben. Steigende Risikoaufschläge sollten eigentlich Anreiz für Regierungen sein, ihre Staatsfinanzen zu konsolidieren. Dieser Mechanismus hebelt die EZB im Zweifelsfalle mit ihren Wertpapierkäufen aus."

MICHAEL HEISE, HQ TRUST

"Trotz der Korrektur der Geldpolitik werden die Inflationsraten in 2023 und 2024 noch weit über den Zielen der EZB liegen. Da viel davon abhängt, ob die jüngste Abwärtsbewegung der Rohstoffpreise anhält, ist es richtig, eine flexible und datengetriebene Strategie zu verfolgen. Dass die Ankündigungen der EZB zum Anti-Fragmentierungsinstrument einigermassen vage geblieben sind, ist der Lage angemessen. Anleihekäufe zur Kontrolle von Risikoprämien für hochverschuldete Länder stünden sehr schnell im Konflikt mit dem Verbot der Staatsfinanzierung und mit der Einhaltung der länderspezifischen Quoten beim Anleihebestand. Ökonomisch bedeuten Anleihekäufe eine Ausweitung der Geldmenge, die die Inflation weiter verstärken könnten."

CHRISTIAN OSSIG, BUNDESVERBAND DEUTSCHER BANKEN (BDB):

"Mit der Erhöhung der Leitzinsen um 50 Basispunkte stellt sich die EZB der Inflation entschlossen entgegen. Damit beenden die europäischen Währungshüter endlich nach acht Jahren die Phase der Negativzinspolitik. Sie zeigen damit, dass sie die hohe Inflation nicht dauerhaft hinnehmen wollen. Das ist auch ein wichtiges Signal an die Tarifparteien."

JÖRG ASMUSSEN, GESAMTVERBAND DER DEUTSCHEN VERSICHERUNGSWIRTSCHAFT (GDV):

"Die erste Zinserhöhung seit 2011 ist zweifellos ein besonderer Moment. Sie kommt spät, ist aber richtig. Die Kapitalmärkte haben die Zinswende seit längerem eingepreist. Die heutige Erhöhung um 50 Basispunkte ist - trotz der Vorankündigung einer Zinserhöhung um 25 Basispunkte - durch die Datenlage für die Eurozone gerechtfertigt. Zugleich ist sie ein symbolträchtiger Schritt, der die Negativzinsphase beendet. Dennoch kann die heutige Zinserhöhung nur ein erster Schritt in einer Reihe gewesen sein."

BASTIAN HEPPERLE, HAUCK AUFHÄUSER LAMPE PRIVATBANK:

"Letztlich war der Inflationsdruck doch zu gross und die Inflationsaussichten zu schlecht, so dass sich der EZB-Rat zu einem grossen Leitzinsschritt durchgerungen hat. Das Ende der Negativzinspolitik ist damit besiegelt. Es bleibt dennoch ein schaler Beigeschmack, da EZB-Präsidentin Christine Lagarde bis zuletzt einen grossen Zinsschritt erst für September in Aussicht gestellt hatte. Dass sie es sich binnen kurzer Frist anders überlegt hat, trägt nicht zu einer besseren Berechenbarkeit der geldpolitischen Entscheidungen bei."

"Weitere Leitzinserhöhungen werden folgen. Für September zeichnet sich ein weiter grosser Zinsschritt ab. Danach steht jedoch ein schwierigeres Konjunkturumfeld bevor. Ausserdem dürften viele Euro-Schuldenländer dafür sorgen, dass der Umfang an Zinserhöhungen nicht aus dem Ruder läuft. Zu diesen Ländern gehören auch die meisten Befürworter für das bereits genehmigte Anti-Fragmentierungsinstrument. Das wird als notwendig für eine ordnungsgemässe geldpolitische Transmission gesehen, doch die EZB läuft damit Gefahr, sich noch mehr der fiskalischen Dominanz auszusetzen. Anreize zu einer soliden Finanzpolitik werden damit untergraben. Um die innere Stärke des Euroraums steht es weiterhin nicht gut."

JÖRG KRÄMER, CHEFVOLKSWIRT COMMERZBANK:

"Es ist gut, dass sich die EZB heute zu einem grossen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt durchgerungen hat. Aber das kann nur ein Anfang sein. Der Euroraum mit seinem tiefgreifenden Inflationsproblem braucht eine Serie grosser Zinsschritte, um den Leitzins rasch über das sogenannte neutrale Niveau zu bringen, das wir bei knapp drei Prozent sehen. Nur dann würde die EZB die Konjunktur nicht mehr anfachen, so dass die Inflation mittelfristig wieder sinken würde. Aber die EZB schielt auf die hoch verschuldeten Länder wie Italien, die weiter auf niedrige Leitzinsen drängen dürften, obwohl die EZB heute ein Hilfsprogramm für diese Länder beschlossen hat. Die Inflation dürfte noch viele Jahre deutlich über den versprochenen zwei Prozent liegen."

(AWP/Reuters)