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AboZum Tod von Erica Pedretti
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Die Künstlerin und Schriftstellerin Erica Pedretti in ihrem Atelier in La Neuveville im Jahr 2005.
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«Ich bin da zu Hause, wo mein Garten ist», antwortete die Schriftstellerin und Künstlerin Erica Pedretti auf die Frage nach der Heimat, die ihr immer wieder gestellt wurde. Das war lange bevor Migration, Integration und Identität zu Schlagworten des Tagesgeschehens wurden. So etwas wie ein Garten ist auch ihr vergleichsweise schmales, aber eindrückliches literarisches Werk, das zwischen 1970 und 2010 entstanden ist.

In ihren Romanen, Erzählungen und Essays bearbeitet sie ihre Migrationserfahrung immer wieder mit einem neugierigen, analytischen Blick und setzt avancierte literarische Verfahren ein, um den grossen Erzählungen über Identität und Fremdheit einen nuancierten, suchenden, unsicheren Standpunkt entgegenzusetzen. «Ich habe keine Heimat, in der ich in Ruhe aufgewachsen bin und Wurzeln geschlagen habe. Mich haben politische Gründe mobil gemacht – leider oder Gott sei Dank», schreibt sie 1978 in einem Essay mit dem Titel «Heimat – ein Schweizer Problem?».

Erica Pedretti wurde als Erica Schefter 1930 im mährischen Sternberg in eine deutschsprachige Familie hineingeboren und wuchs in einem grossbürgerlichen, kosmopolitisch aufgeschlossenen Umfeld auf. Der Vater war als Antifaschist im Krieg zwangsinterniert worden, doch das änderte nichts daran, dass die Familie nach Kriegsende weisse Armbinden mit dem schwarz aufgedruckten Buchstaben N, für «nemec» (deutsch), tragen musste. «Eine Revanche», schreibt Pedretti später, «die nicht ganz unbegründet war, wenn man an den hohen Prozentsatz von Nazis unter den Sudetendeutschen denkt. Dass ich nun darunter fiel, war schmerzhaft.»

Sie musste 1950 das Land wieder verlassen und arbeitete als Goldschmiedin in New York.

Mit einem Rotkreuz-Transport gelangten die Kinder, zunächst ohne Eltern, im Dezember 1945 in die Schweiz. Dort lebten Verwandte, die Grossmutter väterlicherseits stammte aus dem Kanton Aargau. Erica besuchte die Kunstgewerbeschule in Zürich und lernte dort ihren Mann kennen, den Plastiker und Maler Gian Pedretti.

Blick in die Wohung von Erica Pedretti, aufgenommen im Jahr 1980.

Doch sie musste das Land 1950 wieder verlassen, und so arbeitete sie als Gold- und Silberschmiedin in New York, bevor sie 1952 durch die Heirat mit Gian Pedretti endgültig in die Schweiz zurückkehren konnte. Das Paar zog fünf Kinder auf und lebte über zwei Jahrzehnte in Celerina im Engadin, bevor es in den 1970er-Jahren nach La Neuveville am Bielersee zog.

Neben ihrer künstlerischen Arbeit begann Erica Pedretti kurz vor ihrem 40. Geburtstag auch zu schreiben. «Diese doppelte Begabung ist schon schön, man kann dann immer tun, was man nicht sollte», sagte sie einmal in einem Interview.

Eine Plastik, die Pedretti für die Triennale Bex et Arts 2005 geschaffen hat.

1976 besuchte sie zum ersten Mal ihre mährische Heimat – was sie nach der Wende regelmässig tat, auch mit Ausstellungen – und erkannte, dass die Wunde der Entwurzelung nicht geheilt werden kann. Davon erzählt sie in ihrem ersten Buch «Harmloses, bitte» (1970). Vorsichtig tastend nähert sie sich den Erinnerungen an, den idyllischen Bildern ihrer Jugend, die sich beim Schreiben in ihr Gegenteil verkehren. Und sie hält fest: Für Menschen, die den gewalttätigen Stürmen des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren, kann es nichts Harmloses geben.

Ihre Texte vermeiden alles Glatte, Abgerundete.

Im Zentrum von Erica Pedrettis Schreiben steht das Verhältnis zwischen Erinnerung und Literatur. In ihrer späten Erzählung «fremd genug» (2010) beschreibt sie eindrücklich, wie «einmal Geschriebenes die Erinnerung überdeckt oder gar ganz ersetzt». Wenn sie sich an die Erlebnisse ihrer Kindheit erinnert, die sie als Vierzehnjährige schon einmal aufgeschrieben habe, seien das keine Kindheitserinnerungen, «sondern die Erinnerung an die Erinnerung einer Vierzehnjährigen».

Entsprechend vermeiden ihre Texte alles Glatte, Abgerundete; stattdessen entwickelte Erica Pedretti eine literarische Collagetechnik, die es ihr erlaubte, Fragmente und Splitter zu verbinden und dabei die Ränder und Bruchstellen hervorzuheben. Immer denkt sie in ihren Texten den Prozess des Schreibens mit.

Bereits in «Harmloses, bitte» beschreibt sie die Poetik, die sie später in so unterschiedlichen Romanen wie «Heiliger Sebastian» (1973) oder «Kuckuckskind» (1998) immer weiter ausarbeiten würde: «Erinnertes, Gelesenes, Erzähltes, Geträumtes: übereinander projiziert, Bilder, die sich überschneiden, überdecken, nicht mehr auseinanderzulösen.» Dabei arbeitet sie mit dem Material, das ihr die Sprache bietet, vor allem auf der musikalischen Ebene. Klang und Rhythmus entfalten eine eigene Struktur; Textsegmente beziehen sich kontrapunktisch aufeinander. Dieser hellhörige, sensible, tastende Umgang mit Sprache und Erzählen wurde von der Literaturkritik auch als dezidiert weibliche Herangehensweise gedeutet.

Literatur wird bei ihr zu einer Erfahrung im Raum: Erica Pedretti im Jahr 1998.

Ein wichtiger Text ist in diesem Zusammenhang «Valerie oder Das unerzogene Auge» (1986), Pedrettis Roman über die Beziehung des Malers Ferdinand Hodler zu seinem Modell, seiner Geliebten Valentine Godé-Darel. Der Text sucht nach einer Stimme für die sterbende Frau, deren Verfall in der berühmten Gemäldeserie Hodlers Schritt für Schritt nachvollzogen werden kann, bis zum Tod und darüber hinaus. Während der Maler den Tod durch seine Kunst zu bannen versucht, löst sich die sterbende Frau, und mit ihr der Text, aus der Ordnung des Erzählens, von Zeit und Raum.

So ist Erica Pedrettis Werk über die Jahre zu einem Garten herangewachsen, den man als Leserin auf ganz unterschiedlichen Pfaden begehen kann; Literatur wird nicht nur zu Musik, sondern auch zu einer Erfahrung im Raum – und dies ganz buchstäblich: Im Lauf ihres Lebens verschmolzen ihre künstlerischen und literarischen Arbeiten immer mehr zu einer Einheit.

Nun ist Erica Pedretti 92-jährig gestorben.

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