Nach mehr als einem Jahrzehnt der ultralockeren Ausrichtung wollen die Währungshüter erstmals wieder ihre Zinszügel straffen. Analysten erwarten eine Anhebung aller drei Schlüsselzinsen um jeweils 0,25 Prozentpunkte. Dies hatte EZB-Präsidentin Christine Lagarde bei der letzten regulären Zinssitzung in Aussicht gestellt und für September einen womöglich noch kräftigeren Zinsschritt. Manche Experten schliessen aber angesichts der sich eintrübenden Konjunkturaussichten und der jüngsten Euro-Schwäche eine kräftigere Zinsanhebung um 0,50 Prozentpunkte nächste Woche nicht aus.

"Mit den sich verschlechternden Konjunkturaussichten läuft die EZB Gefahr, auf der Septembersitzung einer Rezession in die Augen zu schauen", meint etwa der Chefvolkswirt der ING Bank, Carsten Brzeski. Das sei dann nicht der beste Moment, um stärkere Zinsanhebungen zu rechtfertigen. "Auch die jüngste Abschwächung des Euro ist ein weiteres Argument für eine aggressivere Zinserhöhung in der nächsten Woche, was der Währung eine gewisse Unterstützung geben würde," führt er aus.

Die Gemeinschaftswährung war zuletzt erstmals seit 2002 unter die Parität zum Dollar gerutscht. Wie aus den jüngsten Protokollen der Euro-Notenbank hervorgeht, haben einige Ratsmitglieder auf der Juni-Zinssitzung für einen grossen Zinsschritt nächste Woche argumentiert.

Unter den führenden Notenbanken ist die EZB in puncto Zinswende ein Nachzügler. In den USA hat die Federal Reserve schon viel früher auf den anhaltenden Inflationsschub mit Zinserhöhungen reagiert. Die Fed hob im Juni ihre Leitzinsen sogar um 0,75 Prozent an, was der grösste Zinsschritt seit 1994 war. Die EZB hält dagegen nach wie vor ihren Schlüsselsatz auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent, auf dem er bereits seit März 2016 liegt.

Seit 2014 liegt zudem der Einlagensatz im Minusbereich, was für Banken Strafzinsen bedeutet, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Liquidität parken. Seit Herbst 2019 steht der Satz bei minus 0,5 Prozent. Den Kurs der immer niedrigeren Zinsen schlug die EZB aber bereits Ende 2011 ein, als Lagardes Vorgänger Mario Draghi in einer seiner ersten Amtshandlungen an der Spitze der Notenbank die Leitzinsen senkte.

Inflation im Euro-Raum auf Rekordniveau

Es laufe alles auf eine Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte am Donnerstag hinaus, aber es sollte wirklich mehr sein, meint auch Anatoli Annenkov, Volkswirt beim französischen Bankhaus Societe Generale. "Die EZB hat zugegeben, dass sie bei der Inflation falsch lag, was bedeutet, dass die geldpolitische Ausrichtung nicht optimal ist", meint Annenkov. Die Inflation im Euro-Raum war zuletzt auf ein neues Rekordniveau von 8,6 Prozent geklettert. Damit liegt die Teuerung mittlerweile mehr als viermal so hoch wie das Inflationsziel der EZB von zwei Prozent. Diese Marke erachtet sie als optimal für die Wirtschaft. Die Euro-Wächter stehen bereits seit Monaten wegen der hochschießenden Inflationsraten unter Druck. Der Vorwurf lautet, dass sie die Teuerungswelle viel zu spät erkannt haben.

Christian Reicherter, Analyst bei der DZ Bank, hält eine Zinsanhebung von 0,5 Prozentpunkten angesichts des Teuerungsschubs ebenfalls für angemessen. Dennoch glaubt auch er, dass die Notenbank am Donnerstag bei ihrem angekündigten Trippelschritt bleiben wird. "Eine Abkehr vom skizzierten Zinsserhöhungspfad würde unserer Ansicht nach die Glaubwürdigkeit der Notenbank untergraben", meint er. Nach Einschätzung von Experten wird auch nach den ersten Zinsschritten EZB die Geldpolitik zunächst weiter expansiv bleiben. "Da die EZB bei den Zinserhöhungen sehr hinterherhinkt können ihre ersten Schritte als ein bloßes Aufholen verstanden werden", schreiben die Volkswirte der französischen Bank BNP Paribas. Die Geldpolitik werde auch dann immer noch konjunkturstützend sein.

Aus Sicht der Volkswirte der Deutschen Bank gibt es allerdings gute Gründe dafür, warum die EZB die Zinswende mit einem kleinen Zinsschritt einleitet. "Es besteht Unsicherheit wie die Wirtschaft und die Finanzierungsbedingungen auf die erste Zinsanhebung seit mehr als einem Jahrzehnt reagieren werden", schreiben die Volkswirte des deutschen Bankenprimus. Sie haben dabei auch das geplante neue Werkzeug der EZB zur Unterstützung stark verschuldeter Euro-Länder im Blick. Die Deutsche-Bank-Experten erwarten, dass die EZB das neue Werkzeug nächste Woche zusammen mit der Zinserhöhung ankündigen wird: "Die EZB könnte beobachten wollen, wie gut sich das Instrument schlägt, bevor sie die Geschwindigkeit der Zinsanhebungen erhöht."

Die Renditen für Staatsanleihen der Euro-Länder waren im Zuge der erwarteten Zinswende der EZB stark gestiegen. Besonders kräftig legten die Renditen hoch verschuldeter Euro-Staaten wie Italien zu. Das bedeutet höhere Finanzierungskosten für diese Länder. Der EZB-Rat war im Juni deswegen sogar zu einer kurzfristig anberaumten Dringlichkeitssitzung zusammengekommen. Dort beschlossen die Euro-Wächter unter anderem, rasch die Entwicklung eines neuen Instruments abzuschließen. Mit diesem Instrument wollen sie eine unerwünschte Ausweitung der Anleihe-Renditeunterschiede (Spreads) bekämpfen, was sie zumeist als "Fragmentierung" bezeichnen. 

(Reuters)