Die letzten zwei grossen Rezessionen waren 2008 und 2020. Die Finanzkrise führte in der grössten Volkswirtschaft der Welt USA zu einer rund eineinhalb Jahre dauerenden Wirtschaftkrise. Der Beginn der Coronapandemie 2020 stoppte das Wachstum für einige Monate für ein weiteres Mal. 

Die Möglichkeit einer Rezession steht nun wieder im Raum. Die Notenbanken vor allem in den USA und der Eurozone liessen sich viel Zeit, um mit Zinserhöhungen auf die stark gestiegene Inflation zu reagieren. Indem sie die Zinsen nun umso schneller anheben, könnten sie dem Wachstum einen Schlag versetzen. Verkompliziert wird die Lage durch den russischen Krieg gegen die Ukraine. 

An der Börse ändert sich indessen das Sentiment. "Was wir im Moment sehen, ist der Übergang von den Inflationsängsten zu Wachstumsängsten", sagt Anastassios Frangulidis, Chefstratege und Leiter Multi Asset bei Pictet Asset Management. An den Börsen hätten die Aktienmärkte seit Anfang Jahr unter dem Eindruck steigender Zinsen eine Bewertungskorrektur erlebt. Diese sei fast abgeschlossen, doch nun würden die Sorgen um die Gewinnaussichten der Unternehmen grösser.

Wie preisen die Märkte die nächsten Notenbank-Schritte ein?

"Es kommt jetzt darauf an, was die Notenbanken im Verhältnis zu dem machen, was der Markt erwartet", sagt Frangulidis. Wenn der Markt im Lauf der nächsten Monate weniger starke Zinserhöhungen einpreise, erhielten die Aktienmärkte wieder eine gewisse Unterstützung durch die Bewertungen. "Wegen der Rezessionsrisiken sind sie aber den sinkenden Gewinnerwartungen ausgesetzt. Immerhin ist bezüglich der Zinserhöhungen aus Sicht der Aktienmärkte schon viel Negatives eingepreist." 

Die Rendite von US-Staatsanleihen mit zehn Jahren Laufzeit hat jüngst wieder etwas abgenommen. Die Grafik zeigt auch die beiden US-Rezessionen 2020 und um 2008 (Chart: St. Louis Fed).

In den Rezessionen der Finanz- und der Coronakrise sackten die Börsen erheblich ab. Der S&P 500 korrigierte zwischen Juli 2007 und März 2009 um 55 Prozent. Im Februar und März 2020 verlor dieser Wall-Street-Index rund 30 Prozent seines anfänglichen Werts. In beiden Fällen folgten sehr starke Erholungen der Kurse. Doch 2022 lässt sich nur bedingt mit den früheren Krisenphasen vergleichen. 2008 und 2020 spielte Inflation keine grosse Rolle. Auch einen Krieg wie nun in der Ukraine gab es nicht.

Zur Zeit schlagen sich Märkte, Unternehmen und die Prognosespezialisten mit Rezessionsanzeichen wie der inversen Zinskurve und der starken Korrektur der Aktienmärkte herum. Sorgen um die Immobilienmärkte vor allem in den USA bestimmen das Bild mit. Die Stimmung bei den Unternehmeslenkern hat sich stark verschlechtert. Der Konsum ist zwar bisher trotz Krisensituation längere Zeit robust gewesen, zeigt aber jetzt auch Zeichen der Schwäche. 

Aktien-Situation von Anfang 2022 könnte sich umkehren

Die Aktienmärkte schauen ihrerseits weiter in Richtung der Zinsen. Die Erwartungen sind aktuell, dass die Federal Reserve den Leitzins der USA bis auf maximal 3,5 Prozent anheben wird. Noch vor kurzem lagen die Erwartungen höher. Unter dem Szenario von weniger starken Zinsbefürchtungen könnten sich die Vorzeichen für die Aktienmärkte umgekehrt entwickeln wie Anfang 2022.

Die Überperformance von Value-Aktien würde dann enden und die Banken- und Rohstoffsektoren kämen wieder unter stärkeren Druck. Wachstumsaktien bekämen aufgrund der weniger starken Bewertungsproblematik wieder eine Chance. Für die Defensiven wäre die Lage ebenfalls besser. Die Aktien von Firmen, deren Gewinnsituation weniger stark schwankt, bekämen an den Märkten wieder mehr Aufmerksamkeit.  

Die Vermögensverwalterin Helvetische Bank hat nach einer Erholung Ende März die Titel VAT, Straumann und Geberit aus dem Musterportfolio herausgenommen, um defensiver zu agieren, wie Research-Chef Remo Rosenau sagt. "Wir haben über die letzten sechs Monate eine starke Bewertungsverschiebung gesehen, insbesondere bei Halbleitern, aber auch, etwas weniger stark, bei Medizialtechnologie-Titeln." Die klassischen defensiven Lebensmittel-Werte wie Lindt & Sprüngli, Barry Callebaut, NestléEmmi oder Orior seien im Vergleich zu Wachstumsaktien inzwischen aber wieder klar teurer geworden und handelten heute zum Teil schon höher als gewisse Technologie-Titel.

"Ich denke nicht, dass diese Bewertungsverschiebung noch einmal ein halbes Jahr so weitergehen wird", sagt Rosenau. Eine relativ milde Rezession könnte die Inflation auch schon deutlich dämpfen, was beispielsweise dazu führen könnte, dass die Notenbanken ihre Bilanzen nicht weiter verkürzen: "Damit würden jene Titel, die zuletzt stark gelitten haben, wieder mehr gefragt sein."

Putin hält die Fäden in der Hand

Ein massiver möglicher Stolperstein bleibt allerdings die Frage der Gas- und Energieversorgung. Derzeit läuft wegen Wartungsarbeiten durch die Ostseeleitung Nord Stream 1 kein russisches Gas nach Europa. Am 21. Juli sollte die Leitung wieder Gas transportieren. Doch das Spiel des Kreml-Gewaltherrschers Wladimir Putin könnte ein anderes sein. Wenn er in Russland die Lieferungen nicht wieder aufnehmen lässt, wird dies Volkswirtschaften in Europa stark belasten. Vielleicht ist dies genau Putins Absicht, um Gewicht in Verhandlungen um den künftigen Status der Ukraine zu erhalten.

Klar ist das Bild freilich nicht. "Wir wissen nicht, was als nächstes passieren wird", sagt Analyst Rosenau. Ein kompletter Stopp der Gaslieferungen für das ganze Jahr könnte auch eine deutliche Rezession auslösen und damit alle Bereiche der Börse nochmals stark belasten. In den Kursen sei dieses Szenario wohl noch nicht enthalten.

"In einem solchen Szenario dürften die Notenbanken aber ziemlich sicher 'die Seiten wechseln', sprich, wieder in Richtung einer expansiveren Geldpolitik gehen." Und die Geldpolitik sei für die Aktienmärkte weiterhin zentral. "Never fight the Fed" gelte nach wie vor. Im Moment spreche dies allerdings noch gegen die Börsen.