Bei russischen Angriffen auf die zweitgrösste ukrainische Stadt Charkiw im Nordosten des Landes sind nach örtlichen Angaben mindestens drei Menschen getötet worden. Bei dem Artilleriebeschuss gab es zudem 31 Verletzte, darunter zwei Kinder, wie der Regionalgouverneur am Montag weiter mitteilte. In Tschassiw Jar weiter südlich in der umkämpften Region Donezk suchten Rettungskräfte nach dem Beschuss eines fünfstöckigen Wohnhauses weiter nach Überlebenden, mindestens 19 Menschen kamen bei dem Angriff vom Samstag um. Russland versucht weiter, im Donbass die Region Donezk vollständig unter seine Kontrolle zu bekommen, nachdem dies in Luhansk bereits gelungen ist.

Die ukrainische Regierung erwartet, dass die russischen Streitkräfte eine Grossoffensive in Donezk vorbereitet. Der Donbass ist ein von Industrie geprägtes Gebiet im Osten der Ukraine, in dem bereits seit 2014 von Russland unterstützte Separatisten weite Teile kontrollieren. Charkiw liegt nordwestlich ausserhalb des Donbass. Zu Beginn des Krieges am 24. Februar gab es dort schon einmal heftige Kämpfe. Den ukrainischen Streitkräften gelang es aber, die russischen Truppen zurückzudrängen. Bürgermeister Ihor Terechow sagte, die jüngsten Angriffe hätten vor allem die zivile Infrastruktur getroffen. Die Regierung in Moskau weist den Vorwurf zurück, bewusst zivile Ziele anzugreifen.

Russland spricht von einem "militärischen Sondereinsatz" in der Ukraine, der der Entmilitarisierung und Denazifizierung zum Ziel habe. Der Westen und die Ukraine dagegen werfen Russland einen nicht provozierten Angriffskrieg und Kriegsverbrechen vor. In Tschassiw Jar, wo am Samstagabend Raketen in dem Wohnhaus eingeschlagen waren, wurden noch etwa zwei Dutzend Menschen vermisst, darunter ein Kind. Der Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Andrij Jermak, sprach am Wochenende von einem "weiteren Terroranschlag" und verlangte, dass Russland als staatlicher Unterstützer von Terrorismus bezeichnet werde.

«Die Kätzchen habe ich nicht gefunden»

Überlebende des Angriffs in Tschassiw Jar berichteten von drei Einschlägen in dem Wohnhaus. "Der erste war irgendwo in der Küche", sagte eine Frau, die ihren Namen mit Ludmila angab. "Es gab einen Blitz, wir rannten zum zweiten Ausgang und dann sofort in den Keller, da haben wir dann die ganze Nacht gesessen." Eine weitere Überlebende sagte, sie habe ihre beiden Katzen retten wollen. "Ich wurde ins Bad geschleudert, es war überall Chaos", berichtete sie schluchzend. "Ich stand unter Schock, alles war voller Blut." Drei Stockwerke seien eingestürzt. "Die Kätzchen habe ich nicht gefunden."

Im Süden bereiten die ukrainischen Streitkräfte offenbar eine Gegenoffensive vor. Vize- Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk rief am Sonntag die Zivilbevölkerung in der von Russland besetzten Region Cherson auf, diese zu verlassen. "Ich weiss mit Sicherheit, dass dort keine Frauen und Kindern sein und dass sie nicht zu menschlichen Schultzschilden werden sollten", sagte Wereschtschuk im Fernsehen. Wann die Gegenoffensive beginnen könnte, liess sie offen.

In dem grössten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wurden bereits Tausende Menschen getötet. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind auf der Flucht vor den Kämpfen. Mehr als 5,5 Millionen von ihnen sind ins Ausland geflohen. Europa bangt angesichts des Krieges um seine Energiesicherheit, da Russland die Lieferung von Gas eingeschränkt hat. (Bericht von: Anna Voitenko, Max Hunder, Tom Balmforth Bearbeitet von Sabine Ehrhardt und Alexander Ratz redigiert von Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

(Reuters)