cash.ch: Herr Geniale, die Aktienmärkte kommen in Europa und den USA wegen der hohen Inflation, den steigenden Zinsen und Rezessionsängsten nicht aus der Abwärtsspirale heraus. Der Nasdaq 100 steht seit Jahresbeginn 28 Prozent tiefer, der S&P 500 20 Prozent und selbst der defensiv ausgerichtete SMI hat 16 Prozent verloren. Wie beurteilen Sie die aktuelle Marktlage?

Mario Geniale: Die steigenden Zinsen und die sich abschwächende Wirtschaft setzen den Märkten zu. Zudem sind die Zentralbanken mit ihren geldpolitischen Massnahmen gegen die Inflation zu spät. Sie sind behind the curve. Das heisst, dass sie prozyklisch handeln, was zu einer Rezession führen könnte. Man sieht zudem bereits, dass sich die hohe Inflation negativ auf den Konsum auswirkt. 

Inwiefern werden die höheren Inputkosten für die Unternehmen zum Problem für die Aktienmärkte?

Die Produktionspreise können nicht immer ganz weitergegeben werden und gleichzeitig stehen die Unternehmen vor neuen Lohnforderungen. Das hat insgesamt das Potenzial, die Margen von Unternehmen nach unten zu drücken. Analysten erwarten für 2022 noch immer ein Gewinnwachstum von 10 Prozent. Hier könnte es noch die eine oder andere Korrektur geben. Es wird sich zeigen, was die Unternehmen im zweiten Quartal erwirtschaftet haben. Dies wird Aufschluss darüber geben, wie es auf unmittelbare Frist für die Börsen weitergehen wird.

Viele Anlegerinnen und Anleger agieren wegen den volatilen Märkten vorsichtig. Daher: Was ist an den Märkten bereits eingepreist?

Die Stimmung ist sehr negativ und vieles ist bereits eingepreist. Es ist wahrscheinlich, dass die Gewinnschätzungen reduziert werden müssen. Grosse Korrekturen wird es dabei nicht geben. Und wenn man das vorausschauende Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) anschaut, handeln die Märkte wieder auf den längerfristigen Durchschnitten. Das KGV liegt in den USA für den S&P 500 bei 16. Das ist ein Wert, bei dem der Index in den Jahren vor der Pandemie gelegen hat. Beim SMI liegt das KGV ebenfalls bei 16, der Euro Stoxx 50 wird gar mit einem moderaten KGV von 11 gehandelt. 

Was ist Ihre Prognose für das restliche Jahr 2022?

Unmittelbar stehen die Unternehmenszahlen an und die Volatilität wird bis Ende des dritten Quartals hoch bleiben. Mit Blick auf das Jahresende stellen jedoch die heutigen Niveaus an den Märkten Einstiegsmöglichkeiten dar, insbesondere unter einer mittelfristigen Optik. Die Aktienmärkte werden Ende Jahr deutlich höher stehen, da der Gewinnrückgang nur temporär ist. Sobald der Inflationspeak erreicht ist, haben die Zentralbanken wieder Stimulus-Spielraum. Wir erwarten, dass das Zinsniveau historisch betrachtet tief bleibt.

Es ist für mutige Anlegerinnen und Anleger aktuell ein guter Zeitpunkt, um in den volatilen Märkten gezielt Zukäufe zu tätigen?

Genau. Dies machen wir auch und sind bei unseren Mandaten bei Aktien auf Übergewichten gegangen. Natürlich können die Märkte nochmals 5 bis 10 Prozent korrigieren. Den Tiefpunkt zu erwischen, wird wegen der bestehenden Unsicherheiten wie dem Ukraine-Krieg, den Lieferkettenproblemen, der hohen Inflation, der restriktiven Notenbankpolitik etc. schwierig sein. Im Grundsatz muss man bei diesen Niveaus zugreifen.

Der Starökonom Nouriel Roubini sieht Aktienkurse, die nochmals 50 Prozent tiefer gehen. Daran glauben Sie nicht?

Diese Weltuntergangspropheten sind immer da, wenn es an den Märkten zu Turbulenzen kommt. Eine solche Korrektur ist äusserst unwahrscheinlich, jedoch nicht gänzlich auszuschliessen. 

Das klingt sehr optimistisch. Droht in Europa und den USA als Folge der starken Zinsanstiege nicht eine Rezession?

Für das Gesamtjahr 2022 oder 2023 wird keine Rezession erwartet, sondern "nur" eine deutliche Abschwächung. Eine technische Rezession ist hingegen wahrscheinlich, das heisst zwei Quartale in Folge mit negativem Wirtschaftswachstum. In den USA war das Wachstum im ersten Quartal bereits negativ. Das gleiche gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für das zweite Quartal. Für das dritte und vierte Quartal sollte das Wachstum in den USA wie auch in Europa positiv sein.

Befürchten Sie nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin Europa den Gashahn komplett zudreht und so die Industrie stark betroffen sein könnte?

Wir rechnen nicht mit diesem Szenario. Deutschland bereitet sich jedoch darauf vor und hat einen Notfallplan ausgerufen. Nur 17 Prozent des Gases wird von der Industrie verwendet, die Reduktion dieser Abhängigkeit ist in vollem Gange. 

Dreh- und Angelpunkt ist vermutlich sowieso, wie weit die Zentralbanken bei ihren Zinserhöhungen gehen werden. Wie ist hier Ihre Einschätzung?

In dem Szenario einer dezidierten Wirtschaftsabschwächung und Inflationsraten, die in den USA nächstes Jahr zwischen 2,5 und 3,5 Prozent liegen, werden die Zinserhöhungen schnell einmal kein Thema mehr sein. Im Verlauf des 2023 werden die Zentralbanken vielmehr zu einer stimulierenden Geldpolitik zurückkehren und die Zinsen vermutlich wieder senken. Wenn aber die Wirtschaft überraschenderweise über mehrere Quartale ein negatives Wachstum vorweist oder dies an den Märkten erwartet wird, würde die US-Notenbank Fed sehr schnell eine Kehrtwende vollziehen.

In der Eurozone ist die Inflationsrate mit einem Wert von 8,6 Prozent erneut auf einen Rekordstand gestiegen. Und auch in den USA ist noch kein Nachlassen des Preisdrucks sichtbar. Warum sehen Sie längerfristig tiefere Inflationszahlen?

Die Inflation wird herunterkommen, da sich die Basiseffekte allmählich auswirken werden. Nach einem starken und scharfen Anstieg tendiert der Ölpreis volatil seitwärts. Der Effekt des Ölpreises wird daher auslaufen und die Inflation dementsprechend herunterkommen. Fakt ist auch, dass die Preise für Industriemetalle stark zurückgekommen sind. Der Preis für Kupfer hat seit Jahresbeginn 20 Prozent verloren, Aluminium 15 Prozent. Zusammen mit tieferen oder seitwärtslaufenden Energiepreisen wird dies die Inflation drücken.

Wird die Inflationsgefahr in den Medien überzeichnet?

Ja, die Medien fokussieren sich sehr stark auf dieses Thema. Die Berichterstattung ist jedoch geprägt durch die unmittelbare Vergangenheit. Und es ist schlussendlich ein Thema, das Leserinnen und Leser interessiert. 

Die von Ihnen prognostizierten Inflationsraten liegen aber immer noch über dem langjährigen Durchschnitt…

Wir haben strukturelle Veränderungen, die dazu führen werden, dass die Basisinflation über die unmittelbare Frist höher als in der Vergangenheit liegen wird. Dazu zählen die Lieferkettenproblematik und die Repatriierung von gewissen Produktionsschritten. Aber die aktuellen Übertreibungen bei der Inflation wegen des Anstiegs der Preise für Öl und Industriemetalle werden schnell der Vergangenheit angehören.

Die übergeordneten deflationären Trends der Demographie und Technologie spielen keine Rolle mehr?

Doch, wobei der deflationäre Einfluss der Technologie wegen der Repatriierung nachlassen wird. Die teilweise Umkehr des Globalisierungstrends, also die vermehrte Produktion vor Ort, spricht gegen Deflation.

Die steigenden Zinsen machen Anleihen wieder interessanter. Gilt TINA (There is no Alternative) für Aktien noch?

Bis anhin war die beste Freundin meiner sechsjährigen Tochter Tina. Ab sofort heisst sie hingegen Tara, "There are Reasonable Alternatives". Bei Obligationen von Holcim mit Laufzeiten von sieben oder acht Jahren kriegt man mit einer Rendite von 2,5 bis 3 Prozent. Das gilt auch für andere Unternehmen in der Schweiz, zum Beispiel Baloise mit sechs Jahren Laufzeit zu 1,8 Prozent, und insbesondere für die USA, wo noch deutlich höhere Renditen erhältlich sind. Es ist daher sinnvoll, einen Teil des Vermögens wieder in Obligationen zu investieren.

In Anbetracht Ihrer Markteinschätzung für die nächsten Monate; bei welchen Schweizer Titeln sehen Sie Potenzial?

Dazu zählt sicherlich Roche, welche in jüngster Zeit einige Rückschläge in der Forschung hinnehmen musste. Wir sehen auch Partners Group positiv, da das Umfeld für Private Equity nur temporär schwieriger geworden ist. Schlussendlich ist auch Sika mit der starken Korrektur sehr spannend. Im aktuellen Umfeld sind bei der Titelselektion folgende drei Punkte wichtig: Qualität, Qualität und Qualität.

Anfang Jahr zählten zu Ihren Aktientipps noch ABB, Logitech und AMS Osram. Insbesondere AMS hat mit einem diesjährigen Kursverlust von 56 Prozent stark Federn gelassen. Stehen Sie noch zu ihren Empfehlungen?

ABB entwickelte sich analog zu anderen Industriewerten schwach, die Perspektiven bleiben jedoch ausgezeichnet. Logitech weist eine ähnliche Performance auf wie die Technologiebörse Nasdaq und ist spätestens jetzt mit einem KGV von 11 attraktiv bewertet. Der Kurs von AMS hat über 50 Prozent nachgegeben und ist damit substanziell unterbewertet. Vor zwei Jahren bezahlte ams für Osram 3,1 Milliarden Euro, die Marktkapitalisierung beider Firmen zusammen beträgt aktuell 2 Milliarden Franken.

Bei welchen Schweizer Aktien sehen Sie grosse Risiken?

Bei den Herstellern von Basiskonsumgütern sollte man sich zurückhalten. Bei diesen werden die steigenden Kosten zu einem Problem, da die Preissetzungsmacht limitiert ist. Zudem sind die Bewertungen im Vergleich weiterhin hoch. Nestlé hat ein KGV von 24 und ist damit höher bewertet als Alphabet. Klar ist Nestlé ein Qualitätstitel, aber man sollte für einen Kauf noch zuwarten.

Gold hat seit Jahresbeginn 4,3 Prozent verloren und steht auf dem Niveau vom letzten September. Was ist Ihre Prognose für das restliche Jahr? 

Der erstarkte Dollar und steigende Zinsen haben dem Goldpreis zugesetzt. Die Idee, dass Gold als Krisenschutz dient, hat sich daher nur mässig bewährt. Obwohl der Dollar stark bleiben wird, dürfte sich der Goldpreis auf dem aktuellen Niveau stabilisieren und bis Ende Jahr 5 Prozent zulegen.

Mario Geniale ist als Chief Investment Officer verantwortlich für die Anlagepolitik der Bank CIC. Der diplomierte Vermögensverwalter und Finanzexperte verfügt über langjährige Erfahrung im Portfolio Management und Advisory.

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