Er liebte das Leben, er war ein Liberaler: Martin Bangemann ist tot

Der frühere deutsche Wirtschaftsminister, EU-Kommissar und FDP-Chef ist im Alter von 87 Jahren gestorben. In seinen Ämtern fiel er nicht zuletzt durch Unberechenbarkeit auf. Am Ende seiner politischen Laufbahn wurde er in den Augen der Öffentlichkeit zur Skandalnudel.

Hansjörg Friedrich Müller, Berlin
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Am Fuss der Schwäbischen Alb fand er eine neue Heimat: Martin Bangemann, hier 1985 mit seinem Sohn Philipp im Garten seines Hauses in Metzingen.

Am Fuss der Schwäbischen Alb fand er eine neue Heimat: Martin Bangemann, hier 1985 mit seinem Sohn Philipp im Garten seines Hauses in Metzingen.

Dieter Bauer / Imago

Er war ein Mann mit einem gargantuesken Appetit, auf Essen, auf Bücher und auf Ideen. Akten interessierten ihn weniger; lieber las er Romane. Beamte, die unter ihm arbeiteten, empfanden ihn häufig als disziplinlos. «Ich liebe das Leben, ich bin ein Liberaler» lautete Martin Bangemanns Motto als Parteichef der deutschen FDP.

Dem Lustprinzip gab er immer wieder nach: Beim Rückflug aus Südamerika, so berichtete «Der Spiegel», legte die Maschine des damaligen Wirtschaftsministers einen Zwischenstopp in Senegal ein. Für den Wirtschaftsattaché der deutschen Botschaft, der zum Flughafen gefahren war, um Bangemann die Lage in Westafrika zu erläutern, nahm sich der Minister nur zehn Minuten Zeit: Er wollte zurück ins Flugzeug, um eine Skatpartie mit Journalisten fortzusetzen.

Geboren wurde Martin Bangemann 1934 in Wanzleben im heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt. Wie sein späterer Parteikollege Hans-Dietrich Genscher verliess er die junge DDR noch vor dem Bau der Mauer. Im Westen studierte er Jura und arbeitete als Rechtsanwalt. Eine neue Heimat fand er in Metzingen am Fuss der Schwäbischen Alb, dem Städtchen, aus dem seine Ehefrau stammte.

Leben nach dem Lustprinzip: Martin Bangemann, hier im Januar 1985 auf der Agrarmesse «Grüne Woche» in Berlin.

Leben nach dem Lustprinzip: Martin Bangemann, hier im Januar 1985 auf der Agrarmesse «Grüne Woche» in Berlin.

Imago

Zwischen Bonn, Strassburg und Brüssel

Bangemanns politisches Leben spielte sich grossteils zwischen Bonn, Strassburg und Brüssel ab. 1972 wurde er ein erstes Mal in den Bundestag gewählt; ein Jahr später entsandten ihn seine Abgeordnetenkollegen ins Europaparlament, das damals noch nicht von den Bürgern gewählt wurde. 1979, bei der ersten Europawahl der Geschichte, zog er als Spitzenkandidat seiner Partei erneut in das Strassburger Gremium ein. Fünf Jahre später wurde er aus diesem abgewählt und verlagerte den Schwerpunkt seiner Aktivitäten zurück nach Bonn.

Unberechenbar war Bangemann auch als Parteipolitiker: 1971 wirkte er an den Freiburger Thesen der FDP mit, die dem damaligen, sozialliberalen Kurs der Partei ein theoretisches Fundament verschaffen sollten. 1975 wurde er als Generalsekretär der FDP nach nur einem Jahr abgelöst. Seine Parteikollegen störten sich an Bangemanns chaotischem Arbeitsstil; zum Verhängnis wurde ihm aber, dass er ein Ende des Bündnisses mit der SPD und einen Schwenk hin zur CDU forderte.

Seiner Zeit voraus: Martin Bangemann (links), hier mit Hans-Dietrich Genscher auf dem Parteitag der FDP im Dezember 1985.

Seiner Zeit voraus: Martin Bangemann (links), hier mit Hans-Dietrich Genscher auf dem Parteitag der FDP im Dezember 1985.

Sven Simon / United Archives / Imago

Er war seiner Zeit voraus: 1982 wechselte die FDP den Koalitionspartner; der Christlichdemokrat Helmut Kohl wurde neuer Kanzler. 1984 folgte Bangemann seinem Parteikollegen Otto Graf Lambsdorff, der über einen Parteispendenskandal gestolpert war, als Wirtschaftsminister nach. Bangemann blieb seinem Stil treu: Einmal versprach er Griechenland die Lieferung von 75 Panzern; geplant gewesen waren 50. Die Mehrkosten musste das Aussenministerium aus einem Sonderfonds finanzieren.

Das Verhältnis zwischen Bangemann und seinen Parteikollegen verschlechterte sich wieder zusehends; 1988 verkrachte er sich mit Lambsdorff, der ihn unterdessen als FDP-Chef abgelöst hatte. Es blieb der Ausweg nach Brüssel: 1989 wurde Bangemann EG-Kommissar, zunächst für den Binnenmarkt, vier Jahre später für Industriepolitik und Telekommunikation. Seine Amtszeit endete 1999, als die damalige Kommission unter dem Luxemburger Jacques Santer geschlossen zurücktrat. Sie kam damit einem Misstrauensantrag des EU-Parlaments zuvor, den dieses wegen Korruptionsvorwürfen hatte stellen wollen.

In den Augen der deutschen Öffentlichkeit wurde Bangemann nun zur Skandalnudel: Durch seinen Wechsel zum spanischen Telefónica-Konzern nährte er den Verdacht, Insiderwissen aus seiner Zeit als Kommissar monetarisieren zu wollen. In Brüssel langweile er sich zu Tode, so erklärte er dem damaligen deutschen Kanzler Gerhard Schröder sein neues Engagement. Ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, das der EU-Rat gegen Bangemann angestrengt hatte, wurde eingestellt, nachdem der Ex-Kommissar zugesichert hatte, zwei Jahre lang keine dritte Partei gegenüber den EU-Organen zu vertreten.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte er im Westen Frankreichs, wohin er sich mit seiner mehr als 10 000 Bücher umfassenden Bibliothek zurückgezogen hatte. Am Dienstag ist Martin Bangemann im Alter von 87 Jahren im Département Deux-Sèvres gestorben.

Akten langweilten ihn schnell: Martin Bangemann, hier mit seiner Ehefrau Renate im August 1984 am Bodensee.

Akten langweilten ihn schnell: Martin Bangemann, hier mit seiner Ehefrau Renate im August 1984 am Bodensee.

Sven Simon / United Archives / Imago

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