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Nachruf auf früheren Boxstar Jürgen Blin Hart im Nehmen

Immer wieder wurde Jürgen Blin auf seinen Kampf gegen Muhammad Ali angesprochen. Dabei war der Boxer so viel mehr, Europameister, Lebenskünstler, Kneipenwirt – nur eins fehlte ihm oft: Glück.
Boxer Jürgen Blin

Boxer Jürgen Blin

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Michael Webb / Getty Images

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Die Geschichte mit dem Lottogewinn passt perfekt in das Leben von Jürgen Blin. Da hat er tatsächlich vor zwei Jahren 1,7 Millionen Euro im Lotto gewonnen. Das musste er einfach herumerzählen, voller Freude. Dadurch hörten davon auch Leute, die das besser nicht erfahren hätten. Kurze Zeit danach wurde bei Blin eingebrochen, die 300.000 Euro, die er von dem Lottogewinn daheim im Safe aufbewahrte, wurden gestohlen. Die Täter wurden später gefasst, das Geld aber war futsch.

Wie gewonnen, so zerronnen. So war es bei Jürgen Blin immer mal wieder. Manchmal war er einfach zu gutgläubig.

Das Leben des Jürgen Blin, das am Sonntag mit 79 Jahren zu Ende ging, war ein Boxerleben. So wie man sich das nach Hollywoodfilmen vorstellt. Einer, der von ganz unten kam, sich nach oben gekämpft hat und danach nicht unbedingt mit Glück gesegnet wurde. Ein Leben voller Geschichten. Ali-Gegner, Europameister, Kneipenwirt.

Von den Mitschülern verlacht

Geboren und aufgewachsen ist er in Burg auf Fehmarn als Sohn eines Melkers, so steht es in jedem biografischen Text über Blin. So wie bei Boxer Graciano Rocchigiani nie fehlen durfte, dass er Sohn eines sardischen Eisenbiegers war. Blin musste schon als Kind auf dem Hof mithelfen, der Vater war alkoholkrank, ein Wüterich, der seinen Sohn verprügelte, wie Blin über ihn erzählt hat. In der Schule lachten die anderen Kinder über ihn, weil er nach Mist roch, wenn er in der Klasse saß.

Der Kampf der Kämpfe: Blin gegen Muhammad Ali 1971

Der Kampf der Kämpfe: Blin gegen Muhammad Ali 1971

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Central Press/ Getty Images

Blin wusste früh, er musste weg aus dieser Welt, hinaus in eine Welt jenseits von Burg auf Fehmarn. Mit 14 verließ er die Enge der Heimat ins lockende, blinkende Hamburg, die Großstadt. Und was macht man klassischerweise, wenn man nach Hamburg geht? Man verdingt sich als Schiffsjunge.

Blin lernt nicht nur früh die große Stadt kennen, er lernt die Meere der Welt kennen, herauf entlang Norwegens Küste bis zum Nordkap, über den Atlantik nach Kanada, Blin lässt sich den Wind um die Nase wehen, bevor es zurück nach Hamburg geht, wo er dann eine Lehre als Fleischer beginnt.

Boxhalle gegenüber der Schlachterei

Gegenüber der Schlachterei ist eine Boxhalle, also warum nicht mal hineinschauen? Und so beginnt sie, die sportliche Geschichte des Mannes, der Anfang der Siebzigerjahre der beste Boxer Deutschlands war.

Blin hat 48 Kämpfe in seiner Laufbahn bestritten, es waren atemberaubende Fights darunter gegen seinen Dauerrivalen Gerd Zech, gegen Norbert Grupe, den legendären Prinzen von Homburg, gegen den Spanier José Manuel Urtain, den baskischen Holzfäller, gegen den sich Blin 1972 den EM-Titel erboxte, gegen den schlagharten Briten Joe Bugner, gegen den er seinen EM-Titel wieder verlor – und dennoch wird seine Karriere immer und immer wieder auf einen Kampf verkleinert: auf jenen Fight am zweiten Weihnachtsfeiertag 1971 im Hallenstadion von Zürich: Jürgen Blin gegen Muhammad Ali. 20.000 Zuschauer, 180.000 D-Mark Kampfbörse.

Ali hatte zuvor seinen Titelkampf gegen Joe Frazier verloren. The Greatest brauchte einen Aufbaufight, einen Aufbaugegner, einen, an dem er sich sein Selbstvertrauen zurückholen konnte. Er brauchte einen wie Blin.

Zum Verlieren eingekauft

Dem Deutschen war das bewusst, als seinem Manager Fritz Wiene der Ali-Kampf angeboten wurde. »Klar, dass ich zum Verlieren eingekauft wurde. Die hatten keinen Gegner gefunden, nun sollte ich das Opfer sein«, hat er sich im »Hamburger Abendblatt« Jahrzehnte später an den Kampf erinnert, und auch daran, dass »ich vorher unglaublich aufgeregt war und die Hosen voll hatte«.

Jürgen Blin, Muhammad Ali, Karl Mildenberger (v.l.) bei einer Gala 2002 in Riesa

Jürgen Blin, Muhammad Ali, Karl Mildenberger (v.l.) bei einer Gala 2002 in Riesa

Foto: ECKEHARD SCHULZ/ ASSOCIATED PRESS

Sieben Runden hat er gegen den großen Ali im Ring gestanden, bevor ihn eine Faust des Superstars zu Boden schickte. »Sieben Runden steht nicht jeder durch gegen Ali«, hat Blin später im SPIEGEL gesagt, er hätte sogar noch weiter boxen können, aber er wollte sich bitterere Prügel ersparen. Da ist er einfach liegen geblieben. »Ich wusste ja, dass ich keine Chance hatte.«

Am nächsten Tag stand er in Hamburg wieder in der Fleischerei an der Ladentheke. Ehrensache.

Neben Karl Mildenberger ist er damit der einzige Deutsche, der gegen Ali boxen durfte. Auch wenn sich Blin später auch mal darüber geärgert hat, dass alle mit ihm nur über Ali sprechen wollten: Der Stolz, zum exklusiven Kreis der Ali-Gegner gezählt werden zu können, in einer Reihe mit Frazier, Foreman, Ken Norton, Larry Holmes und Leon Spinks, war ihm immer anzumerken.

1973 hatte er keine Lust mehr, in den Ring zu steigen, er sattelte um. Aus dem Fleischermeister und Profiboxer wurde ein Gastwirt. Seine Eckkneipe am Hauptbahnhof, eine bessere Imbissbude, »Jürgen Blins Bier- und Snackbar«, hatte in Hamburg einen gewissen Kultcharakter. Vollgestopft mit Devotionalien aus seiner Sportkarriere, der Meister stand selbst am Zapfhahn, ein Ali-Porträt natürlich hinter dem Tresen.

Ein Glückskind war Blin im Leben nie, das Vermögen zerbröckelte nach seiner Scheidung, ein Sohn nahm sich früh das Leben. Er hat das alles ertragen. Auch, dass er 2007 plötzlich wieder in den Schlagzeilen war, weil ihn ARD-Kommentator Waldemar Hartmann bei einer Boxveranstaltung im Fernsehen live vor einem Millionen-TV-Publikum für tot erklärte. Blin wollte erst eine Richtigstellung von der ARD, dann nahm er es achselzuckend hin. Kommt vor. Noch ein Bier für den Gast auf der Durchreise.

2012 war Schluss mit der Kneipe, auch mit seinen Versuchen, im Boxgeschäft als Trainer und als Vorsitzender des Hamburger Boxvereins BC Sportmann noch etwas weiterzumachen, hatte er da schon aufgehört.

Zuletzt lebte er zurückgezogen in seinem Haus im Hamburger Stadtteil Boberg. Und wenn ab und an zum Geburtstag die Presse vorbeischaute, erzählte er noch einmal, wie es war, damals in Zürich, Weihnachten 1971, als er sieben Runden gegen den größten Boxer aller Zeiten durchhielt.

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