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Hamburg Nachruf auf Jürgen Blin

Das Duell mit Ali war der Kampf seines Lebens

In seinem Keller bewahrt Jürgen Blin seine Erinnerungen an die großen Kämpfe auf In seinem Keller bewahrt Jürgen Blin seine Erinnerungen an die großen Kämpfe auf
In seinem Keller bewahrt Jürgen Blin seine Erinnerungen an die großen Kämpfe auf
Quelle: Bertold Fabricius
Am 2. Weihnachtstag des Jahres 1971 traf der Hamburger Boxer Jürgen Blin auf Muhammad Ali. Er kämpfte wild und entschlossen und verlor doch. Gleichzeitig legte er aber die Grundlage für eine neue Laufbahn. Nun ist Blin im Alter von 79 Jahren gestorben.

Kaum war der Gong zur zweiten Runde verhallt, ging es drunter und drüber im Ring. Vogelwild keilte der Außenseiter aus Deutschland drauflos, fiel über den turmhohen Favoriten aus den USA her. Ohne Atempause stürmte Jürgen Blin vorwärts und brachte Muhammad Ali sichtlich in die Bredouille. Mit beidhändigen Haken attackierte er seinen Kontrahenten, der die Unterarme schützend hochriss, für Momente wie auf der Flucht und beinahe fassungslos wirkte. Alis Mimik schien zu fragen: „Was will dieser Wicht von mir?“

Der Angreifer aus Hamburg indes setzte mit Löwenmut nach. Auch wenn die meisten seiner Schläge das Ziel verfehlten oder an Alis Deckung abprallten, vereinzelt drangen sie doch zum Kopf oder Körper durch. Schließlich holte Blin aus zu einem mächtigen Schwinger, dem Ali jedoch geschmeidig auswich. Derartige Wucht lag in dem Schlag mit der linken Führhand, dass Blin durch das Luftloch selbst ins Straucheln geriet. Applaus des erstaunten Schweizer Publikums belohnte den furchtlosen Deutschen nach Ende dieser Runde.

Muhammad Ali wird von Jürgen Blin angegriffen, doch seine Schläge verpuffen
Muhammad Ali wird von Jürgen Blin angegriffen, doch seine Schläge verpuffen
Quelle: picture alliance/KEYSTONE

Es war ein ungleiches Duell, das vor 50 Jahren, am 2. Weihnachtstag des Jahres 1971, im Hallenstadion Zürich stattfand. In einer Ecke der Megastar Muhammad Ali, der nach einer mehrjährigen Zwangspause gerade erst wieder in den Ring zurückgekehrt und noch nicht wieder in Bestform war. Im März hatte er gegen Joe Frazier seine erste Niederlage im Profilager erlitten.

Ihm gegenüber ein germanischer Faustkämpfer, der nur zur Ehre dieses Duells gekommen war, weil zwei andere erwogene Aufbaugegner ausgefallen waren. Die Sache schien von vornherein aussichtslos, Alis Sieg programmiert. Nichtsdestotrotz lag der hanseatische Underdog auch nach der vierten Runde noch in Führung. Doch danach wandelte sich sukzessive das Kampfgeschehen. Ali riss sich zusammen, schaltete einen Gang höher, übernahm das Kommando.

„Ich war nicht richtig weg“, erinnert sich Blin

In Runde sieben dann traf der US-Amerikaner mit einer nicht allzu wuchtigen Rechten über die hängende Deckung Blins hinweg dessen Kopf. Der Deutsche torkelte einige Schritt zurück, krachte in die Seile und sackte schließlich zu Boden. „Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich mich in dem Moment nicht unbedingt hätte auszählen lassen müssen“, meint Blin rückblickend. „Ich hab zwar den Treffer gespürt, war aber nicht richtig weg und hätte eigentlich schon, als der Ringrichter bei drei war, weitermachen können.“ Intuitiv entschied er sich jedoch dagegen, sich aufzurichten, um das Gefecht wieder aufzunehmen.

Ali gewann den Kampf durch K.O. in der siebten Runde
Ali gewann den Kampf durch K.O. in der siebten Runde
Quelle: pa/KEYSTONE/STR

Jürgen Blin ließ sich auszählen und kassierte eine höchst ehrenvolle Niederlage im Kampf gegen den populärsten Profiboxer aller Zeiten. „Ich war ja hohes Tempo gegangen und hatte mein Pulver zu dem Zeitpunkt schon ziemlich verschossen“, so seine heutige Sicht der Geschehnisse. Dabei sei ihm von Anfang an klar gewesen, dass er Ali niemals würde ausknocken können, „aber hätte ich defensiv geboxt, wäre ich wahrscheinlich noch früher am Ende gewesen.“

Schmerzfreie Niederlagen sind selten im Sport. Diese schmeckte sogar süß, erwies sich als purer Glücksfall. Als einer, der mit dem Boxgenie Ali die Fäuste gekreuzt hatte, war Blin für Veranstalter in Deutschland und Europa ein interessanter Protagonist, der gern verpflichtet wurde.

Der Glanz wirkte über das sportliche Karriereende hinaus. Als er später Lokale in Billstedt, am Berliner Tor und im Hauptbahnhof betrieb, kamen Neugierige, um dem ehemaligen Ringhelden beim Bierzapfen zuzusehen. „Ich habe rund eine Million durchs Boxen verdient, aber mit den Kneipen auch nicht schlecht“, sagt Blin.

Ein junger Mann boxt sich nach oben – bis zum EM-Titel

Das war das finanzielle Resultat einer Bilderbuchlaufbahn, die die Grunderzählung für diesen Kampfsport spiegelt: die Chance, sich als Unterprivilegierter buchstäblich hochzuboxen. Eben das schaffte Jürgen Blin, der in fürwahr armseligen Verhältnissen aufwuchs. Der Vater: Melker, Säufer, Tyrann. Die Familie musste innerhalb Schleswig-Holsteins mehrfach den Standort wechseln, weil „der Alte“ wieder mal irgendwo gekündigt worden war.

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Mit 15 floh Blin nach Hamburg, um zur See zu fahren – Hauptsache weg vom heimischen Elend: „Ich wollte nur noch raus aus dem Dreck.“ Die erste Fahrt ging nach Monrovia. Sein Job: Hilfskraft in der Kombüse, Gemüse putzen, kochen, servieren, abwaschen. Als er bald darauf mit seinem „Kahn“ auf dem Atlantik in tobende See geriet, dachte er, das Ende sei gekommen, sie würden absaufen.

Immerhin das blieb ihm erspart. Blin aber reichte die Erfahrung. Er heuerte ab, begann eine Fleischerlehre und kam in Kontakt zum HBC Heros, Hamburgs ruhmreichen Boxclub. Schnell fing er Feuer und merkte: „Mensch, du hast ja doch Talent für was.“ Mit den ersten Erfolgen im Amateurlager wuchs sein Selbstvertrauen, Blin spürte, Boxen ist sein Ding, vielleicht der Weg, sein Leben positiv zu verändern. Das sollte sich bewahrheiten.

Wer Jürgen Blin heute in seinem Einfamilienhaus in den Boberger Dünen besucht, wird zuerst in den Keller dirigiert. Dort hat der 78-Jährige eine museale Kollektion zusammengestellt mit Fotos, Zeitungsausschnitten und Utensilien aus seiner Zeit als Berufsboxer von 1964 bis 1973. Ein überaus wertvolles Erinnerungsstück freilich ist verloren gegangen: Der EM-Gürtel von 1972. Erobert hatte der Hamburger ihn gegen den Spanier José Manuel Urtain, einen baskischen Holzfäller, der in seiner Spezialdisziplin „Steinstemmen“ keine Herausforderer mehr fand und notgedrungen zum Faustkampf gewechselt war.

Im Sportpalast von Madrid gewann der Deutsche nach Punkten. „Der Sieg war verdient, aber bei weitem nicht so klar wie beim ersten Mal“, urteilt Blin heute. Knapp zwei Jahre vorher habe er Urtain in den 15 Runden, die damals in Titelkämpfen noch Usus waren, klar beherrscht und mehrfach am Boden gehabt. „Meine Punktniederlage war eine Sauerei hoch drei“, empört sich Blin noch heute. Es war die Epoche, in der es im Boxbusiness hieß, bei Profikämpfen im Land eines Titelverteidigers müsse man durch K.o. siegen, sonst sei man verloren. Die Punktrichter galten als bestechlich.

Jürgen Blin aber fehlte der Dampf in den Fäusten, einen zerstörerischen Schlag hatte er nicht im Repertoire. Er haute viel, traf häufig, doch selten nachhaltig. Der „Box-Beatle“ Norbert Grupe wurde nach Treffern Blins sechsmal angezählt und verlor dennoch nur nach Punkten. So hat Blin von seinen 48 Profikämpfen lediglich neun vorzeitig gewonnen. Keine besonders furchteinflößende Bilanz für einen Schwergewichtler.

Eigentlich boxte Blin in der falschen Klasse

„Meine Gegner waren fast immer größer, hatten mehr Reichweite und wogen oft 25 Kilo mehr als ich mit meinen 85.“ Heute wäre er optimal aufgehoben im Cruisergewicht, das es damals als Klasse zwischen Halb- und Schwergewicht nicht gab. Aus seinen physikalischen Maßen resultierte die Ringtaktik: „Ich konnte ja gar nichts anderes machen, als ständig Feuer zu geben.“ Nicht mal sonderliche Begabung bescheinigt sich Blin: „Im Grunde war ich eine reine Willensmaschine.“ Ihm war egal, welche Stärken und Schwächen seine Gegner mitbrachten: „Ich hab immer vom ersten Gong an attackiert. Für mich gab‘s nur eins: den Sieg.“

Damals, in Zürich, war der freilich beim besten Willen nicht erreichbar, obwohl Blin heute sagt: „Ali war in meiner Karriere gar nicht mal der schwerste Gegner – Joe Bugner und Gerhard Zech habe ich als stärker empfunden.“ Mit dem Berliner Zech lieferte sich der Hamburger binnen drei Jahren vier legendäre Ringschlachten, von denen er zwei siegreich beendete, zweimal lautete das Urteil unentschieden. An den baumlangen Briten Bugner verlor er seinen gerade erst eroberten EM-Titel.

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Muhammad Ali hat er im späteren Leben noch zweimal getroffen. 2002 auf einer obskuren Produktpräsentation in der sächsischen Stadt Riesa. Der Boxgott war bereits von der Parkinsonkrankheit gezeichnet. Fünf Jahre später saß Blin neben Ali in Berlin am Ring, als dessen Tochter Laila Weltmeisterin im Supermittelgewicht wurde. Es existiert ein Foto, das die beiden Exchampions, die Köpfe eng beieinander, im Gespräch zeigt. Es hing lange Jahre in Jürgen Blins Kneipe im Hauptbahnhof, heute ziert es den besagten Kellerraum. Denn eines ist Jürgen Blin bei allem norddeutschen Understatement klar: „Das Duell mit Ali, das war der Kampf meines Lebens.“

Am 8. Mai 2022 ist Jürgen Blin in Hamburg nach kurzer Krankheit im Alter von 79 Jahren gestorben. Blin hinterlässt zwei Söhne und seine Lebensgefährtin. Dieses Porträt erschien erstmals am 25. Dezember 2021.

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