Die Kunst des Erinnerns beginnt mit dem Vergessen. Zum Tod des Romanisten Harald Weinrich

Er gehörte zu den belesensten Literaturwissenschaftern unserer Zeit. Seine Bücher blieben dennoch schmal und waren ein umso grösseres Vergnügen. Nun ist Harald Weinrich 94-jährig gestorben.

Roman Bucheli
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Der Romanist Harald Weinrich (1927–2022) in einer undatierten Aufnahme.

Der Romanist Harald Weinrich (1927–2022) in einer undatierten Aufnahme.

Universität Bielefeld

1927 geboren, teilte Harald Weinrich das Schicksal von unzähligen seiner Altersgenossen: Als 17-jähriger Soldat geriet er am Ende des Zweiten Weltkriegs in Gefangenschaft. So überlebte er den Krieg, doch sein grösseres Glück war, dass er den Amerikanern in die Hände fiel. Sein Schicksal jedoch hatte anderes mit ihm vor. Die Amerikaner übergaben den jungen Soldaten an die Franzosen, in deren Obhut Weinrich nun für die restlichen zweieinhalb Jahre seiner Kriegsgefangenschaft bleiben sollte. Hier wurde seine Liebe zur französischen Sprache entfacht, die ihn fortan durch das Leben begleiten sollte. Und vielleicht entdeckte er seine Leidenschaft für die Sprache überhaupt gerade mit diesen ersten französischen Vokabeln, die er als Häftling nun lernte. Sie schulten sein Gehör für anderes, als es das Geschrei der Nazis getan hatte.

Denn der Sprache in allen ihren Ausprägungen, von der Grammatik bis zu den Schöpfungen der Literatur, galt von da an sein Interesse. Und schon sein Studium führte ihn von Deutschland nach Spanien und Frankreich, woraus zu ersehen war: Die Neugier dieses weltoffenen Geistes wollte sich nicht einschränken lassen. Und wurde er später auch auf verschiedene Professuren in Deutschland berufen, so schloss sich 1992 in schönster und gleichwohl unverhoffter Konsequenz mit einer Berufung an das Pariser Collège de France ein Lebenskreis. Der Gefangene kehrte als bedeutender Gelehrter zurück.

Mit Händen und Füssen

Dieser Ruf nach Paris führte nicht nur in Weinrichs Lebensgeschichte eine wundersame Wende herbei, sondern stellte auch für die ehrwürdige, 1530 gegründete Institution ein bemerkenswertes, doppeltes Novum dar. Denn zum ersten Mal in ihrer Geschichte wurde mit Harald Weinrich ein Nichtfranzose an das Collège de France berufen (es bedurfte dazu einer Änderung der Satzung). Und es wurde für ihn, den Deutschen, erstmals überhaupt ein Lehrstuhl für die französische Sprache und Literatur geschaffen.

Es verwundert nicht, dass die Körperlichkeit in Weinrichs Sprachverständnis eine eminente Rolle spielte. Selbst die Grammatik stellte er sich «mit Augen und Ohren, Händen und Füssen» vor. Seine Vorlesungen waren Elementarereignisse, sie waren gelebte Sprache. Wenn er auch nicht mit Händen und Füssen sprach, so fesselte er sein Publikum mit der ungeheuren Gegenwärtigkeit seines freien Vortrags und durch seine mit Anschauung gesättigten und virtuos komponierten Gedankengänge. Fast hörte man ihm lieber zu, als dass man ihn las.

In seinen besten Büchern – 1997 etwa seine Gedanken zur «Kunst und Kritik des Vergessens» oder sieben Jahre später die Reflexionen über «Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens» – gelang ihm, woran andere scheitern: die Synthese aus Fülle und Askese. War über Jahrhunderte die Gedächtniskunst die herausragende Kulturleistung, trat mit zunehmenden und inzwischen unüberschaubaren Wissensbeständen die Kunst des Vergessens in den Vordergrund. Kultur entsteht nun dort, so Weinrich, wo das Gedenken und das Vergessen in eine produktive Spannung gebracht werden können.

Das Ungesagte schwingt mit

Für den schreibenden oder vortragenden Wissenschafter bedeutet dies: Das meiste bleibt ungesagt – und schwingt dennoch im Hintergrund mit. Darin besteht das Mysterium dieser Form des Verzichts: Der Reichtum entsteht aus der Reduktion, so wie bei Proust (und bei Freud noch einmal in ganz anderer Art) die Erinnerung erst den langen Weg durch das Vergessen gehen muss. Wenn also Harald Weinrich Phänomene der Zeitverknappung oder der Erinnerung durch alle Epochen hindurch ausleuchtet, dann vollzieht er an seinem Material gerade das, was er beschreibt: Erst mit dem Weglassen wächst der Echoraum der Erinnerung. Dem Leser wiederum verheisst dies Zeitgewinn einerseits, grösstes Vergnügen anderseits.

Am 26. Februar ist der Sprachkünstler Harald Weinrich in Münster 94-jährig für immer verstummt. Seine Bücher werden bleiben.