Der Chronist einer wilden Bühnenzeit – zum Tod des Theaterhistorikers Günther Rühle

Er hat sich als Theaterkritiker profiliert und als Intendant. Später schrieb er eine monumentale Theatergeschichte. Am Freitag ist Günther Rühle im Alter von 97 Jahren gestorben.

Bernd Noack
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Günther Rühles Theatergeschichte liest sich wie ein Roman (Bild 2010).

Günther Rühles Theatergeschichte liest sich wie ein Roman (Bild 2010).

Imago

Da liegt noch das neue Buch auf dem Tisch, druckfrisch: «Ein alter Mann wird älter». Das erschütternde Diarium eines langsamen Abschieds von der Welt, das der Theaterhistoriker und Journalist Günther Rühle bis April 2021 geführt hat. Und mitten in der Lektüre kommt die Nachricht, dass der Autor gestorben ist. Der letzte Satz im Buch lautet: «Ich bezeuge hier schon mal meinen Lebensdank.»

Zu Lebzeiten also hatte sich einer verabschiedet – der noch so viel vorhatte. Der dritte Band seiner monumentalen deutschen Theatergeschichte, die 1887 beginnt und einstweilen bis ins Jahr 1966 reicht, bleibt nun Fragment. Knapp zwei Drittel des Stoffes konnte Rühle noch bewältigen, aber es versagte die Kraft zum Abschluss.

Visionäres Engagement

Für einen, der zeitlebens intensiv in alten Dokumenten forschte, muss der Verlust des Augenlichts die grösste Strafe sein. Im Tagebuch beschreibt Rühle mit radikaler Offenheit die Hilflosigkeit des Erblindenden, der die Tasten seines Computers nicht mehr trifft, der mehr als einmal daran denkt, freiwillig aus dem Leben zu gehen.

Geboren 1924 in Giessen, studierte Rühle in Frankfurt Germanistik, kam dann zur Zeitung und begann ganz unten. Vom lokalen Journalismus ging es bald ins Feuilleton, wo er sich ab 1960 in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» als Theaterkritiker einführte. Und das blieb er, während er in gescheiten, nie polemischen Texten und Reflexionen zum Chronisten einer wilden Bühnenzeit wurde. Sein gegen viele Anfeindungen durchgehaltenes Engagement für einen Aussenseiter wie Einar Schleef etwa erwies sich letztlich als visionär und strafte alle Gegner Lügen.

Einmal wechselte Günther Rühle die Seiten: Von 1985 bis 1990 war er Intendant des Schauspiels Frankfurt. Was ihn reizte? Das Feuilleton sei ein loser Verbund, sagte Rühle, der zunächst bei der «FAZ» und später auch beim Berliner «Tagesspiegel» jahrelang Leiter dieses Ressorts war. Im Theater aber habe man es «mit einem Haufen von Irren zu tun, da muss man Seelenpfleger, Pläneschmied, Kunstkenner, Innen- und Aussenminister in einer Person sein».

Unter seiner Intendanz kam es in Frankfurt 1985 zu Tumulten und zum heftigen Streit mit der jüdischen Gemeinde wegen der Aufführung von Fassbinders «Der Müll, die Stadt und der Tod». Der Vorwurf des Antisemitismus schmerzte den Theatermacher, war jedoch nicht haltbar. Sein Respekt vor den Shoah-Opfern sei ungebrochen, und im Rückblick meinte Rühle gar, er habe zum wachsenden Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinde beigetragen, weil man nun tatsächlich angefangen habe, «miteinander zu sprechen».

Rühle zog es zurück an den Schreibtisch. Zwar sah man ihn nach wie vor bei den Premieren in der Republik: einen stillen Beobachter, der nicht viel Worte in den Pausen machen wollte. Die eigentliche Arbeit aber war fortan rückwärtsgewandt. Er gab das Werk Alfred Kerrs heraus und entdeckte dessen feuilletonistische Briefe über das erwachende Leben im Berlin der Jahrhundertwende.

Trauriges Fazit

Und das war auch die Zeit, die Rühle nun quasi mit Blick aus dem Parkett selber beschreiben wollte. Seine Theatergeschichte liest sich wie der Roman eines Augenzeugen, seine Porträts der einstigen Bühnengrössen sind so plastisch, als hätte er sie alle gekannt. Seine Analysen zeigen keinen besserwisserischen Kritiker, sondern einen klugen Kenner.

Günther Rühles Fazit seines produktiven Lebens ist ernüchternd und traurig: «Das Alleinsein erdrückt, man ist erschüttert von den Erinnerungen, die ausgebrochen sind aus dem inneren Gefängnis, in das ich sie gesteckt und vergessen habe, vor lauter Arbeitswut.» Im Alter von 97 Jahren ist Günther Rühle in Bad Soden gestorben.

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