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Theater Günther Rühle ✝

Tagesgeschäft und Ewigkeit

Chefkorrespondent Feuilleton
Theaterkritiker und Ex-Intendant Günther Rühle ist tot Theaterkritiker und Ex-Intendant Günther Rühle ist tot
Personifzierte Theatergeschichte: Günther Rühle
Quelle: dpa-infocom GmbH
Günther Rühle hat das Theater der Bundesrepublik geprägt wie kaum ein Zweiter. Auch der größte Theaterskandal der letzten Jahrzehnte ging auf sein Konto. Zuletzt schrieb er einen Nachruf zu Lebzeiten in eigener Sache. Zum Tod des großen Kritikers und Intendanten.

Ein Nachruf war längst überfällig. So furchtbar das klingt, ist es eine Wahrheit über ein Leben, das so episch und ereignisreich war wie eine fantastische Inszenierung – und doch zu Ende gehen muss, weil sich der Vorhang unweigerlich senkt. Günther Rühle, 1924 in Gießen geboren, jetzt im Alter von 97 in Baden Soden am Taunus gestorben, hat das Theater der Bundesrepublik geprägt wie kaum ein zweiter – von beiden Seiten des gar nicht mal so tiefen Abgrunds zwischen Bühne und Parkett, erst als Kritiker, später als Intendant.

Schon in seiner Zeitungszeit, die Jahrzehnte dauerte, war er über alle ideologischen Gräben gesprungen, als er von der „Frankfurter Rundschau“ zur „FAZ“ wechselte. 1960 war das, sieben Jahre war Rühle da schon Feuilletonist, nach einer Promotion über Andreas Gryphius. Ein journalistischer Begeisterungstäter, nach allem, was man hört, der Regisseure, die er bewunderte, „Seher“ nannte – wie im Fall von Klaus Michael Grüber – und der nicht wie grimmigere Kollegen die Fassung wahrte, sondern hingerissen applaudierte, wenn er spürte, was er „Erregungsqualität“ nannte. Zeitlebens habe er, so erinnert sich jetzt ein Weggefährte, „die Eruption des exemplarischen Augenblicks als auch epochales Fanal“ gesucht. Also den Wink der Geschichte in der vorübersausenden Gegenwart.

Wirkt es heute verrückt, dass Rühle ihn ausgerechnet immer wieder im Theater entdeckte? Dass er sich nach langen Redaktionstagen, an denen er bis zuletzt auf der Lauer nach einer triftigen Glosse gelegen hatte, ins Auto setzte, um in eine Bochumer Premiere zu düsen, wo Peter Stein oder Hans Neuenfels, die Titanen jener Jahre, die Zeitläufte in flüchtige Bilder gossen? Die Theater waren damals in der Nachkriegszeit ganz anders in die heftigen Debatten verstrickt als heute. Nach einem Jahrzehnt, in dem er das „FAZ“-Feuilleton geleitet hatte – von 1974 bis 1984 – und notgedrungen weniger ins Theater kam, überredete ihn der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann, selbst eine Legende, die Intendanz des dortigen Schauspiels zu übernehmen. Rühle akzeptierte den Auftrag, Erregungsqualität jetzt noch unvermittelter herzustellen, 3-D und in Farbe statt im Schwarz-Weiß der Feuilletonspalten.

Ein Theaterskandal

Er entdeckte Schauspieler wie Martin Wuttke und förderte den jungen Einar Schleef. Schon im ersten Jahr seiner Intendanz entfachte Rühle einen Skandal, wie ihn das deutsche Theater seither nicht mehr erlebt hat. Der junge Hausregisseur Dietrich Hilsdorf inszenierte in den kleinen Kammerspielen Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Die jüdische Gemeinde der Stadt, allen voran Ignaz Bubis, sahen sich antisemitisch verunglimpft, durch eine Nebenfigur der Handlung, einen als widerwärtig gezeichneten Immobilienspekulanten. Die Premiere am 1. Oktober 1985 wurde durch eine Besetzung – die wie eine ironische Wiederholung der besetzten Häuser des Frankfurter Westends wirkte – verhindert. Rühle setzte daraufhin eine Voraufführung für 150 Kritiker an, die der Verlag als Uraufführung wertete. Der Streit konnte nicht geschlichtet werden, die Proteste dauerten an, das Stück wurde nicht mehr gespielt, angeblich, weil die Sicherheit des Publikums nicht zu gewährleisten war.

Was bleibt davon heute? Nicht zuletzt ein Staunen, dass es damals 150 deutsche Theaterkritiker gab – und man sie alle an einem Abend in Frankfurt versammeln konnte. Tempi passati. Rühle selbst mochte nach dem regulären Ende der Vertragslaufzeit 1989 nicht weitermachen, obwohl ihn Hoffmann bekniete. Er fand sich von der Presse ungeliebt; vielleicht vertraute er ihr als alter Zeitungsmann. Sein größter Erfolg war 1988 die Einladung von Einar Schleefs Frankfurter Inszenierung von Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ zum Berliner Theatertreffen gewesen.

Der Vorhang senkt sich

Im Jahr vor dem Ende der Intendanz war Rühles bisher ausführlichster Beitrag zur Theaterkritik erschienen, „Theater für die Republik. Im Spiegel der Kritik“. Zunächst wurde Rühle wieder Feuilletonist, 1990 bis 1995 als Ressortleiter beim Berliner „Tagesspiegel“. Dann setzte er, der immer beide Pole im Blick hatte, das Tagesgeschäft wie die Ewigkeit, die historische Arbeit fort. Von seiner auf drei Bände angelegten deutschen Theatergeschichte gelang es ihm, zwei fertigzustellen: der erste, 2007 veröffentlicht, über die Jahre 1887 bis 1945, der zweite, von 2014, über die Zeit 1945 bis 1966. Schwindendes Augenlicht machte die Arbeit am dritten unmöglich.

Die Zeitgenossen waren ihm abhandengekommen. Zuletzt fand er sich allein – auch seine Frau, „die wunderbare Margret“, hatte er schließlich verloren – in seinem Haus in Bad Soden nahe Frankfurt. Er zählte dort die Schalter, deren Funktion er blind noch kannte – es waren etwa 180 –, und die täglichen Schritte ums Karree, 1299. Das Leben, über dem sich der Vorhang senkte, hielt er unbeirrt fest, wie ein Theaterkritiker, der noch letzte Gedanken in seinen Block notiert, wenn das Saallicht schon an ist und die Spieler zur Verbeugung an die Rampe treten. Vor ein paar Monaten ist dieses erstaunliche Dokument, Günther Rühles letzte Worte, unter dem Titel „Ein alter Mann wird älter. Ein seltsames Tagebuch“, im Alexander-Verlag erschienen. Darin bekennt er: „Neunzig Jahre brauchte es, bis ich ein Verhältnis zu mir selbst bekam. Ich interessierte mich nie für mich, nur insofern: Was kannst du, was steckt in dir = das Rühlesche Leistungsprinzip. Jetzt fühlt man sich, horcht in sich, erlebt die merkwürdigsten Dinge.“ Das merkwürdigste Ding von allen, den Tod, hat Günther Rühle am 10. Dezember erlebt.

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