Gottfried Böhm, Meister der gebauten Skulpturen, ist 101-jährig gestorben

Der deutsche Architekt hinterlässt ein umfangreiches Werk, eigensinnig und expressiv.

Jürgen Tietz
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Gottfried Böhm, fotografiert 2018.

Gottfried Böhm, fotografiert 2018.

Christian Schaulin

Allein schon aufgrund seines gleichermassen umfangreichen wie einzigartigen Werkes stellte der 1920 geborene Gottfried Böhm eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Architekturlandschaft dar. Er war der erste deutsche Architekt, der den Pritzkerpreis erhielt: Der «Nobelpreis der Architektur» wurde ihm 1986 verliehen.

Die Ursprünge von Böhms architektonischem Wirken führen bis in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. 1947 schob ihm sein Vater Dominikus, selbst als expressionistischer Kirchenarchitekt sehr erfolgreich, im gemeinsamen Architekturbüro den Auftrag für den Bau der kleinen Kölner Kapelle St. Kolumba auf den Schreibtisch. Sie sollte an der Stelle des kriegszerstörten Vorgängerbaus entstehen.

Gottfried Böhm nutzte die Gelegenheit, um ein Gotteshaus von filigraner Schönheit zu verwirklichen. In einem Duktus reduzierter Bescheidenheit errichtet, nimmt sie seitdem einen besonderen Platz im Herzen und im Selbstverständnis der Kölner ein. Nach langer, höchst kontrovers geführter Diskussion integrierte Peter Zumthor den Erstling Böhms in sein kongeniales Kölner Diözesanmuseum Kolumba, das 2007 öffnete.

Familienbande

Eine ebenso sinnliche wie körperlich monumentale Formensprache kennzeichnete Böhms Bauten, der vom Vater in den Beruf eingeführt worden war. Dabei bleibt bis in das Spätwerk spürbar, dass es Gottfried Böhm zunächst zur Bildhauerei zog. Zudem war der reich Begabte auch ein grossartiger Zeichner. Für Gottfried, unter anderem bei Hans Döllgast und Robert Vorhoelzer zwischen 1942 und 1947 in München ausgebildet, stellte wie schon für seinen Vater Dominikus die Auseinandersetzung mit dem Sakralraum das Herzstück des eigenen architektonischen Schaffens dar. Zugleich baute er ganz in seiner Zeit.

Der Film «Die Böhms. Architektur einer Familie» des jungen Filmemachers Maurizius Staerkle Drux feierte zum 95. Geburtstag von Gottfried Böhm in Köln Premiere.

Für den Sichtbeton der 1959 geweihten monumentalen Kasseler Kirche Maria, Königin des Friedens (Fatimakirche) verwendete er beispielsweise Trümmerreste von Bauten, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. Mit seinem ausdrucksstarken Kasseler Kirchbau legte Böhm den Grundstein für seinen weiteren architektonischen Weg. Er führte ihn bis zu jenen expressiven Betonkonstruktionen, deren kristallin gefältelte Formen frühere expressionistische Vorbilder aufgreifen.

Und auch diese Neigung zur skulpturalen Architektur verband die Arbeiten von Vater und Sohn Böhm. Dass Böhm jedoch nicht nur expressiv zu entwerfen verstand, zeigt die Erweiterung des eigenen Wohnhauses. Unter dem Einfluss einer Amerikareise, bei der er Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius besuchte, kommt es im luftigen Stahl-Glas-Duktus eines Miesschen Haut-und-Knochen-Baus daher.

Expressive Sakralbauten

Durch das Werk des Vaters früh mit der liturgischen Bewegung des 20. Jahrhunderts in der katholischen Kirchbaudiskussion Deutschlands vertraut, realisierte Böhm im Rahmen des Kirchbauwunders der Nachkriegszeit zahlreiche Sakralbauten. Es sind grossartige Architekturskulpturen in Ziegel oder Beton, die sich in stereometrischen Formen emportürmen und dabei oft die Erinnerung an archaische Wehrbauten des Mittelalters in moderner Brechung wach werden lassen. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Wallfahrtskirche Maria Königin des Friedens (1963/72) in Velbert-Neviges.

Katholische Pfarrkirche St. Paul von Bocholt im Münsterland (Nordrhein-Westfalen).

Katholische Pfarrkirche St. Paul von Bocholt im Münsterland (Nordrhein-Westfalen).

Thomas Robbin / Imago
Hinter dem Pilgerzentrum steht die Wallfahrtskirche Maria, Königin des Friedens in Velbert-Neviges (Nordrhein-Westfalen).

Hinter dem Pilgerzentrum steht die Wallfahrtskirche Maria, Königin des Friedens in Velbert-Neviges (Nordrhein-Westfalen).

Horst Ossinger / DPA

Mit Urgewalt schiebt sich der mächtige Betonkristall immer höher empor. Ein gebautes Gebirge, das in seinem Inneren 7000 Gläubigen Raum bietet. In der eigenwilligen Architektur spiegelt sich nach Böhms Aussage die hügelige Landschaft des Bergischen Landes wider. In Neviges erweist sich Böhm zudem als Meister der kunstvollen Lichtinszenierung. Der expressiven Geste des Äusseren antwortet das Kircheninnere mit einer nicht weniger beeindruckenden Dramatik des Lichts.

Wie das profane Gegenstück zu dieser Überhöhung des Sakralen erscheint das Rathaus in Bensberg (1962/71). In einer Mischung aus expressivem Betonbrutalismus und mittelalterlicher Wehrhaftigkeit baute Böhm das alte Schloss der Stadt weiter und entfachte dabei in Form und Material einen mutigen Dialog zwischen Alt und Neu. Diesen Dialog zwischen den Epochen und Materialien kennzeichnet auch Böhms neuer Mittelrisalit für das Saarbrücker Schloss. Das steinerne Barockschloss war 1793 von Revolutionären angezündet und später bereits vereinfacht wieder aufgebaut worden. Böhm implantierte ihm auf dem Höhepunkt der Postmoderne-Diskussion in den 1980er Jahren einen gläsernen Mittelrisaliten und zerschlug so den gordischen Rekonstruktionsknoten durch eine barocke Neuinterpretation.

Stilwechsel und Kontinuitäten

Nach den expressiven Höhepunkten Neviges und Bensberg wird die Formensprache Böhms in den siebziger Jahren ruhiger. Ganz im Geist der Zeit werden seine Arbeiten weniger skulptural als strukturell. Zudem wendet er sich nach dem Ende des deutschen Kirchbaubooms anderen Bauaufgaben zu. Neben Wohnhäusern entstehen Büro- und Verwaltungsbauten – doch immer wieder fliessen zeichenhafte Momente ein. Etwa bei den Kölner WDR-Arkaden aus den neunziger Jahren, an deren Entwurf neben seiner Frau Elisabeth, die 2012 verstorben ist, auch sein Sohn Peter im Büro mitwirkte.

Eine skulpturale Monumentalität kennzeichnet dagegen sein Bekleidungskaufhaus in Berlin, das 1995 ebenfalls gemeinsam mit seinem Sohn Peter entstand. Zu Böhms Spätwerk zählen zudem die Glaspyramide der Ulmer Bibliothek (2004) und das Potsdamer Hans-Otto-Theater am Ufer der Havel (2006). Nachdem sich Böhm schon zu Beginn der neunziger Jahre in Japan mit einer Dachkonstruktion in Form von übereinandergestaffelten Betonschalen auseinandergesetzt hatte, griff er diese Idee in Potsdam auf. Noch einmal zeigte sich dort Böhms expressiver Gestaltungswille, in der freilich allzu speckig geratenen roten Farbigkeit der Betonschalen. Sie überfangen den ganz in Schwarz gehaltenen Theatersaal, der sich mit einer Glasfront zum Wasser hin öffnet.

Böhm war 86 Jahre alt, als das Hans-Otto-Theater am Ufer der Havel in Potsdam vollendet wurde.

Böhm war 86 Jahre alt, als das Hans-Otto-Theater am Ufer der Havel in Potsdam vollendet wurde.

Imago

Nun ist Gottfried Böhm im Alter von 101 Jahren gestorben. Er durfte die Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt wie auch die von sechzehn Institutionen gemeinsam geplanten Veranstaltungen anlässlich seines hundertsten Geburtstags vor knapp eineinhalb Jahren noch erleben. Mit den drei Söhnen Stephan, Peter und Paul setzt sich die Arbeit des Familienbetriebs Böhm in der dritten Generation fort, der vierte Sohn wurde Künstler. Es ist ein mächtiges künstlerisches Erbe, das der eigensinnige Architekt mit seinen expressiven und gleichzeitig in sich ruhenden Bauten hinterlassen hat.