Ein Opfer der Cancel-Culture?

Der Choreograf Liam Scarlett galt als grosse Hoffnung der Ballettwelt. Nach Vorwürfen sexueller Übergriffe wurden seine zuvor gefeierten Arbeiten weltweit von den Spielplänen genommen. Jetzt ist der Brite, erst 35-jährig, unter unklaren Umständen gestorben.

Lilo Weber
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Liam Scarlett (1986–2021) empfängt den Dank von Prinz Charles (rechts) nach der Premiere von Scarletts Ballett «The Cunning Little Vixen» am Royal Opera House, gezeigt aus Anlass des 70. Geburtstages des britischen Thronfolgers im Februar 2019.

Liam Scarlett (1986–2021) empfängt den Dank von Prinz Charles (rechts) nach der Premiere von Scarletts Ballett «The Cunning Little Vixen» am Royal Opera House, gezeigt aus Anlass des 70. Geburtstages des britischen Thronfolgers im Februar 2019.

Pool / Reuters

Der Wunderknabe des britischen Balletts ist tot. Liam Scarlett, der bis vor etwas über einem Jahr dem Londoner Royal Ballet als Artist-in-Residence verbunden war und für die Kompanie zahlreiche hoch gelobte Ballette geschaffen hat, ist am 16. April nur gerade 35-jährig verstorben. Das teilten seine Eltern mit. Die Todesursache wurde nicht genannt. Doch durch die Ballettwelt spukt die Vermutung: Suizid.

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

Befeuert wird die Vermutung nicht zuletzt durch einen empörten Eintrag auf Facebook, der sich gegen Cancel-Culture an Bühnen und Opernhäusern richtet. Verfasst hat ihn Alexei Ratmansky. Der russische Hauschoreograf beim American Ballet Theatre ist in Zürich durch seine fabelhafte Rekonstruktion des «Schwanensee»-Balletts von Marius Petipa und Lew Iwanow am Opernhaus bekannt. Er schrieb am 18. April, Liam Scarlett habe gewusst, dass er als Choreograf keine Zukunft mehr gehabt habe, und das habe ihn getötet («Liam knew he has no future as a choreographer. That killed him»). Was war geschehen?

Lebendig verscharrt

Im August 2019 suspendierte das Royal Ballet seinen Hauschoreografen Scarlett und liess Vorwürfe sexueller Belästigung von Studenten der Royal Ballet School durch eine unabhängige Kommission untersuchen. Diese kam zu dem Schluss, dass keine der Angelegenheiten weiterverfolgt werde. Ob es keine Verfehlungen gab oder ob sie für eine Strafverfolgung nicht schwerwiegend genug waren, wurde nicht kommuniziert. Auch Liam Scarlett äusserte sich nicht. Das Royal Ballet kündigte die Zusammenarbeit mit ihm im März 2020 auf; es behielt nur seine Neufassung des «Schwanensees» im Programm.

Bereits im Januar waren die Vorgänge an die Öffentlichkeit gedrungen. In der Folge holte die Tanzwelt den Star, der in sehr jungen Jahren in den Himmel gehoben worden war und auf zahlreichen Opernhausbühnen der Welt leuchtete, nicht nur auf die Erde zurück – sie verscharrte ihn gleichsam. Ohne Grabstein. Das Queensland Ballet in Australien, dem er als künstlerischer Mitarbeiter verbunden war, sagte eine Tour mit seinem Ballett «Dangerous Liaisons» ab. Eine Ballettkompanie nach der anderen beendete ihre Zusammenarbeit mit dem Choreografen, seine Stücke wurden aus dem Repertoire gestrichen. Noch am Tage seines Todes war bekanntgeworden, dass das Royal Danish Ballet Scarletts «Frankenstein» wegen früherer Vorkommnisse nicht wie vereinbart zeigen werde.

Leichtfüssig, schlüssig

Was bleibt uns von dem Künstler – wenn wir denn irgendwann überhaupt wieder einmal seine Werke sehen dürfen? Liam Scarlett war kein Revolutionär, keiner, der eine eigene Schule gebildet hätte. Aber er war weltweit einer der wenigen Choreografen einer jüngeren Generation, die mit dem traditionellen klassischen Vokabular und mit grossen Ballettkompanien arbeiten können.

Er konnte Geschichten schlüssig erzählen, zeitgenössische Stoffe mit klassischem Tanz verbinden. Seine Ballette kamen leichtfüssig daher, waren elegant, öffneten aber auch Abgründe menschlicher Existenz. In «Sweet Violets» folgt er der Theorie, dass der Maler Walter Sickert für die Morde von Jack the Ripper verantwortlich gewesen sein könnte. Und in seinem «Hansel and Gretel» lauerte die Gefahr in der Familie.

Liam Scarlett studierte an der Royal Ballet School, trat 2005 in die Kompanie ein und zog sich bereits sieben Jahre später, 26-jährig, als Tänzer zurück, um sich ganz dem Choreografieren zu widmen. Der Ballettdirektor Kevin O’Hare schuf eigens für ihn den Posten des Artist-in-Residence, und Liam Scarlett war bald eines der Aushängeschilder der renommierten Kompanie. Er war die grosse Hoffnung für das klassische Ballett in Grossbritannien, und einige sahen ihn bereits als künftigen Direktor des Royal Ballet. Nun ist er in Ipswich gestorben, der Stadt, in der er 1986 geboren wurde.

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