Ihr blute das Herz, gab Ursula Happe unumwunden zu und wischte eine Träne aus ihren sonst so fröhlichen Augen. „Ich bin sehr traurig, dass ich nicht in Baden-Baden sein darf. Die Reise in den Schwarzwald war immer mein alljährlicher Höhepunkt“, sagte die einstige Schwimmerin von Weltklasse, nachdem festgestanden hatte, dass die Auszeichnungsfeier der „Sportler des Jahres“ im Dezember des Vorjahres ohne sie stattfinden werde.
Die stolze, ältere Dame zählte dort zu den Dauergästen, zuletzt flanierte sie in Begleitung ihres jüngsten Sohnes Rüdiger durch das klassizistische Kurhaus. Doch 2020 musste sie ihre geliebte Pflichtveranstaltung Corona-bedingt aus dem heimischen Fernsehsessel in Dortmund verfolgen. Zum ersten Mal seit 1954.
In jenem Jahr hatte Ursula Happe als Europameisterin über 200 Meter Brust bei der traditionsreichen Sportlerwahl selbst triumphiert. Die Ehrung damals nahm sie im Karlsruher Kaiserhof entgegen. Zwei Jahre später am 18. Dezember 1956 durfte sie sich im Fünfeck-Saal der Stuttgarter Liederhalle über dieselbe Titelverleihung noch einmal freuen.
Zur eigenen Verwunderung gewann Happel Olympia-Gold
Achtzehn Tage zuvor hatte im fernen Melbourne um 20.23 Uhr ihre glorreiche Stunde geschlagen. In Rekordzeit gewann sie über ihre Spezialstrecke zur eigenen Verwunderung olympisches Gold. „Normalerweise ging ich um diese Zeit immer schlafen, weil ich furchtbar müde war“, erzählte Happe WELT AM SONNTAG anlässlich ihres 94. Geburtstages am 20. Oktober 2020. Sie habe sich „auch nichts weiter ausgerechnet. Deshalb war ich erschrocken, als ich mich nach dem Anschlagen umschaute. Ich dachte: Was ist denn nun passiert? Ich war Erste. Das war natürlich toll, vor allem, nachdem Reporter vorher so gemein gefragt hatten: ,Warum lässt die alte Dame nicht der Jugend den Vortritt?‘ Warum wohl? Weil ich schneller war.“
Dem ersten Sieg einer deutschen Sportlerin bei Sommerspielen nach dem Zweiten Weltkrieg widmete die Dominikanische Republik später sogar eine eigene Briefmarke. Dass Happe mit 30 Jahren und als Mutter von zwei Kindern allen davonschwamm, nötigte eben nicht nur ihren Landsleuten allergrößte Bewunderung ab. Bis heute hat ihr das keine Schwimmerin nachgemacht. Tochter Gudrun kam 1953, Sohn Klaus 1955 zur Welt. Thomas (Jahrgang 1958), der vierte Happe-Sprössling, eiferte seiner Mutter bei TUSEM Essen erfolgreich als Handballspieler nach – gewann 1984 in Los Angeles mit der DHB-Auswahl olympisches Silber.
Schon 1952 in Helsinki, als Deutschland zum ersten Mal nach der Nazi-Barbarei wieder an Olympischen Spielen teilnehmen durfte, stand die gebürtige Danzigerin im Aufgebot. In ihrer Paradedisziplin schied sie jedoch im Halbfinale aus, was sie zeitlebens wurmte. „Ich war damals schon richtig gut“, erzählte sie. „Doch meine Schwiegermutter hatte den Einfall, meinen Mann hinterherzuschicken, weil sie meinte, ich käme ohne ihn nicht klar.“
Ihr Partner aber besaß weder Quartier noch Geld. Essen besorgten ihm die Schwimmerinnen, die keinen Wettkampf hatten, untergekommen ist er bei irgendeiner Dame in der Stadt, was Happe den Nerv raubte. „Am Halbfinaltag hatten wir uns um zehn Uhr verabredet, aber wer nicht pünktlich erschien, war mein Mann. Ich machte mir große Sorgen. Mit Wut und Zorn bin ich dann geschwommen, war gedanklich nicht richtig bei der Sache und scheiterte.“
Ihre Entwicklung mutet umso sensationeller an, da sie von einem intensiven, planmäßigen Training nur träumen konnte. Zumeist morgens um fünf Uhr radelte Ursula Happe nach dem Krieg in Dortmund zum einzigen Hallenbad mit 25-Meter-Bahn. Nach einer Stunde ging‘s wieder zurück. Ihr Mann Heinz Günter, ein Steuerinspektor, von dem sie mehr schlecht denn recht als Übungsleiter betreut wurde, ging zur Arbeit, die Kinder brauchten ihre Mutter.
Obwohl Ursula Happe schon ewig nicht mehr gegen die Uhr schwamm, setzte sie mit ihrem 94. Wiegenfest eine weitere, besondere Rekordmarke. Keiner der 301 deutschen Sportlerinnen, die sich seit den Olympischen Spielen 1896 in Athen in die Siegerlisten verewigt haben, war ein so langes Leben beschieden. In ihr, sagte sie, schlage nun einmal das starke Herz einer passionierten Sportlerin, die dem Älterwerden trotzen möchte.
Bis zum Corona-Lockdown im vorigen Frühjahr zog sie täglich ihre Bahnen im zehn Autominuten entfernten Schwimmbad, „was ich brauche wie die Luft zum Atmen.“ Als Vierjährige hatte sie durch ihren Vater, einen Bademeister, das Schwimmen erlernt. Bis ins hohe Alter kraulte sie 2000 Meter, zumeist in den Morgenstunden. „Das strengt mich nicht an, sondern ist pure Erholung.“ Trotz zwischenzeitlicher Lockerungen im Sommer verzichtete sie auf ihr Lebenselixier „wegen der unschönen Regularien. Dass man im Becken nicht überholen darf, ist doch blöd“, befand sie.
Mit Gymnastik hielt sie sich alternativ in Schwung. Schon beim Aufstehen begann sie damit, indem sie auf der Bettkante sitzend minutenlang die Kraulbewegungen imitierte. Richtig glücklich machte sie das aber nicht, fühlte sie sich doch nie ausgelastet. Und überhaupt sei das Leben durch die Pandemie trist geworden. Was sie sich wünschte? „Ich möchte wieder nach Baden-Baden reisen, regelmäßig schwimmen und jeden Tag noch freche Antworten geben“, sagte sie beim letzten Telefonat vor zwei Wochen. Ihre Sehnsüchte werden sich nicht erfüllen. Am Mittwoch schlief Ursula Happe daheim friedlich ein.