Altbundesrat Flavio Cotti ist gestorben: Aussenminister in einer bewegten Zeit

Der frühere Bundesrat Flavio Cotti ist tot. Der Tessiner verstarb laut dem Nachrichtenportal tio.ch an Komplikationen im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Cotti wurde 81 Jahre alt.

Urs Marti
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Ehrgeiz und Machtbewusstsein sind zwei Eigenschaften, die Flavio Cotti zugeschrieben werden konnten. Cotti, aufgenommen 1998 in Bern.

Ehrgeiz und Machtbewusstsein sind zwei Eigenschaften, die Flavio Cotti zugeschrieben werden konnten. Cotti, aufgenommen 1998 in Bern.

Martin Rütschi / Keystone

Es ist sehr ruhig geworden um Flavio Cotti. In den vergangenen Jahren nahm der früher temperamentvolle Tessiner nicht einmal mehr an den regelmässigen Zusammenkünften der ehemaligen Mitglieder des Bundesrates teil. Nach seinem Rücktritt hat er sich nur noch einmal öffentlich zu Wort gemeldet, beim Tod von Nelson Mandela, dem er als Bundespräsident 1998 in Kapstadt einen offiziellen Besuch abgestattet hatte. Nelson Mandela, so Cotti, sei eine der Personen gewesen, die ihn am meisten beeindruckt hätten.

Der damalige Bundespräsident Flavio Cotti mit dem WTO-Generaldirektor Rennato Ruggiero (Mitte) und dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela im Mai 1998 in Genf.

Der damalige Bundespräsident Flavio Cotti mit dem WTO-Generaldirektor Rennato Ruggiero (Mitte) und dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela im Mai 1998 in Genf.

Patrick Aviolat / Keystone

Steile Politkarriere

Flavio Cotti wurde am 18. Oktober 1939 in Muralto geboren und stammte aus einer ursprünglich im Maggiatal angesiedelten Kaufmannsfamilie. Sein Vater betrieb einen Stoffhandel. Flavio Cotti studierte in Freiburg Rechtswissenschaften und führte zunächst in Locarno zusammen mit einem Verwandten ein Anwalts- und Notariatsbüro. Dann aber machte er vor allem eine steile politische Karriere. Mit 25 Jahren wurde er Gemeinderat, mit 28 Grossrat, mit 36 Staatsrat und mit 44 bereits alt Staatsrat. Er verzichtete 1983 auf eine dritte Amtsperiode in der Tessiner Regierung, wo er das Volkswirtschafts- und Justizdepartement leitete, um den Schritt in die eidgenössische Politik zu wagen. Und auch da schaffte er auf Anhieb die Wahl in den Nationalrat, und zwar mit dem mit Abstand besten Wahlresultat aller acht Tessiner Nationalräte.

Ein Jahr später übernahm er vom Walliser Hans Wyer das Parteipräsidium der CVP Schweiz. Es versteht sich von selbst, dass sich nach den Demissionen der Bundesräte Kurt Furgler und Alphons Egli das Augenmerk rasch auf Flavio Cotti richtete, nicht nur, weil er Tessiner war. In der fraktionsinternen Ausmarchung erzielte er zur Überraschung vieler bereits im ersten Wahlgang sogar mehr Stimmen als der mit ihm gleichzeitig nominierte Nationalrats- und Fraktionspräsident Arnold Koller. Auch die Wahl in den Bundesrat erfolgte am 11. Dezember 1986 glanzvoll mit 163 Stimmen schon im ersten Wahlgang.

Die Bundesratskandidaten der CVP, von links Ernst Dobler, Hans-Rudolf Feigenwinter, Arnold Koller, Flavio Cotti und Judith Stamm, stossen am 22. November 1986 im Vorfeld der Bundesratswahlen in Bern mit einem Glas Weisswein an.

Die Bundesratskandidaten der CVP, von links Ernst Dobler, Hans-Rudolf Feigenwinter, Arnold Koller, Flavio Cotti und Judith Stamm, stossen am 22. November 1986 im Vorfeld der Bundesratswahlen in Bern mit einem Glas Weisswein an.

Keystone

Befürworter eines EU-Beitritts

Ehrgeiz und Machtbewusstsein waren dem unaufhaltsamen politischen Aufstieg von Flavio Cotti zweifellos förderlich gewesen, zwei Eigenschaften, die auch seinen autoritären und impulsiven Führungsstil prägten. Auf Kritik an seiner Aussenpolitik, die er wiederholt auch bei der Lektüre der NZZ zur Kenntnis nehmen musste, reagierte er gekränkt.

Im Departement des Innern, das er zunächst als Nachfolger von Bundesrat Alphons Egli zu betreuen hatte, legte er den Grundstein für das neue Krankenversicherungsgesetz, und ebenso kam unter seiner Leitung ein neues ETH-Gesetz zustande. Weniger Erfolg hatte er dagegen mit seinen Vorschlägen zur 10. AHV-Revision, die 1991 vom Parlament arg zerzaust wurden. Dass sich ein Bundesrat in seiner Funktion als Gesundheitsminister auch engagiert mit den Stop-Aids-Kampagnen zu befassen hatte, gehört heute schon eher zu den historischen Reminiszenzen.

Nach dem aus gesundheitlichen Gründen plötzlich erfolgten Rücktritt von Bundesrat René Felber kam es 1993 zwischen Cotti und Arnold Koller im Bundesrat zu einem Eklat. Beide bewarben sich um die Übernahme des frei gewordenen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Es musste im Bundesrat abgestimmt werden, und Adolf Ogis Stimme war ausschlaggebend, dass Cotti das EDA zugesprochen wurde. Koller hat das seinem «Parteifreund» und dem Kollegium nie verziehen. Schon als Innenminister zeigte Flavio Cotti im Bundesrat wenig Begeisterung für einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), und er gehörte zu den vier Mitgliedern des Bundesrates, die kurz vor der EWR-Abstimmung dem lange das innenpolitische Klima schwer belastenden EU-Beitritts-Gesuch zugestimmt haben. Er sprach sich denn auch wiederholt für einen EU-Beitritt aus, dies nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen. An den Verhandlungen der bilateralen Verträge war er massgebend beteiligt, und deren Abschluss bedeutete für ihn zweifellos einen Höhepunkt seiner politischen Karriere.

Motta als Vorbild

Das grosse politische Vorbild von Flavio Cotti war der Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta, der von 1920 bis 1940 während 20 Jahren die schweizerische Aussenpolitik massgebend geprägt hatte. Wie Motta fühlte sich auch Bundesrat Flavio Cotti wohl auf dem internationalen politischen Parkett, vor allem als er 1996 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) präsidierte. In dieser Funktion setzte Bundesrat Cotti das Friedensabkommen von Dayton zur Beilegung des Krieges in Bosnien in die Tat um und damit auch die internationale Anerkennung der dort durchgeführten Wahlen.

Aussenminister Flavio Cotti stand bereits im Dezember 1994 im Mittelpunkt der OSZE-Versammlung in Budapest, 1996 präsidierte der Tessiner die Organisation.

Aussenminister Flavio Cotti stand bereits im Dezember 1994 im Mittelpunkt der OSZE-Versammlung in Budapest, 1996 präsidierte der Tessiner die Organisation.

Jürg Müller / Keystone

Mehrfach wurden Schweizer Diplomaten mit OSZE-Missionen betraut, so auch Tim Guldimann, der wie Thomas Borer die besondere Gunst Cottis genoss. Borer wurde auf Vorschlag von Cotti auch mit der Leitung der Task-Force Schweiz - Zweiter Weltkrieg betraut, eine Folge der durch die in den USA ausgelöste Diskussion über den Umgang mit nachrichtenlosen Vermögen, ein Thema, das die Beziehungen zwischen der Schweiz und den Vereinigten Staaten stark belastete. Auch auf Antrag von Cottis Departement wurde im Dezember 1996 die Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg eingesetzt, die sogenannte Bergier-Kommission.

Bundesrat Flavio Cotti amtete als Aussenminister – vor allem nach dem Ende der Sowjetunion und dem Auseinanderbrechen des ehemaligen Jugoslawien – in einer bewegten Zeit. Zweimal war er Bundespräsident, 1991 und 1998, und beides waren besondere Jahre. 1991 feierte die Schweiz 700 Jahre Eidgenossenschaft, 1998 150 Jahre Bundesstaat. Beide Jubiläen gaben dem Bundespräsidenten ausgiebig Gelegenheit, seine Eloquenz und Mehrsprachigkeit zur Geltung zu bringen, und sie machten ihn auch in weiten Kreisen der Bevölkerung beliebt, denn bei solchen Anlässen weckte er Sympathien und vermochte seinen Charme, über den er zweifellos verfügte, auszuspielen.

Flavio Cotti ist am Mittwochnachmittag 81-jährig an den Folgen einer Corona-Infektion in einem Spital in Locarno gestorben.

Flavio Cotti mit seiner Ehefrau Renata im April 1987 beim Skilanglauf.

Flavio Cotti mit seiner Ehefrau Renata im April 1987 beim Skilanglauf.

Keystone