Werner Düggelin stieg aus Becketts Asche zum glühenden Modernisten auf

Der geniale Regisseur hat dem Zeitgeist stets die Stirn geboten. Nun ist die Schweizer Theaterlegende im Alter von neunzig Jahren gestorben.

Daniele Muscionico
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Werner Düggelin, Träger des Kunstpreises 2014 der Stadt Zürich, fotografiert in seinem Zuhause an der Augustinergasse in Basel.

Werner Düggelin, Träger des Kunstpreises 2014 der Stadt Zürich, fotografiert in seinem Zuhause an der Augustinergasse in Basel.

Annick Ramp / NZZ

Wir konnten ihm zu guter Letzt oft nur unter Anstrengung folgen. Kopfschütteln, vorschnell und ungeduldig, wie man ist, schien die einzige Antwort auf die letzten Inszenierungen von Werner Düggelin. Bis es uns schliesslich doch dämmerte: Dieser grosse alte Mann ist moderner als das, was wir gewöhnlich für modernes, zeitgenössisches Theater nehmen. Er ist radikaler in seinem Mut, Offenheit zu wagen. Er ist jünger als jeder ums Jungsein bemühte Postdramatiker und Performance-Anhänger. In diesem Künstler nämlich glaubt ein altersloser, zeitloser Geist an die Wirkungsmacht des Theaters, wie man nach alter Väter Sitte an die Kirche geglaubt hat. Nun ist Werner Düggelin im Alter von neunzig Jahren gestorben, und schon jetzt fehlt dieses jüngste der alt gewordenen Theatertiere spürbar.

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Seine Inszenierungen forderten Reduktion um jeden ästhetischen und kulinarischen Preis und huldigten dem Verzicht auf jedwede Handlung und objektive Dramaturgie. Das erfüllte sich vor zwei Jahren in Zürich zum letzten Mal in der Box des Schiffbaus mit dem Abend «Lenz» als Hörstück für drei Stimmen.

Der Regisseur, 88 Jahre alt damals, inszenierte so knapp, dass es nichts mehr zu verknappen gab, nachgerade karg, schmucklos, und keine Stunde lang dauerte, was er uns zum Abschied hinterliess. Doch in dieser kurzen Spanne Zeit schien alles im Raum zu dampfen von dem immensen inneren Widerstand der Regie gegen jede deutbare Geste und gegen eine objektive Dramaturgie. Und so brach sich schliesslich mit «Lenz» ein modernes, zeitungebundenes Stück voller Möglichkeiten Bahn.

Lustvolle Zumutungen

André Jung, der auf der Bühne stand, las aus seinem kleinen «Lenz»-Heft mit Leuchtstift markierte Textstellen und schien sich über das Gelesene selbst zu wundern, später sogar sich zu entrüsten. Und wie die irdische Welt dem Dichter Lenz gleichgültig schien, mochte es auch dem Regisseur gehen: Die Welt der Poesie war sein Zuhause, das gab er uns zu verstehen mit dem Gestus des unbeteiligten Beteiligten.

Wenig war Düggelin verhasster als das «Erklärtheater», und nichts schien ihm erbärmlicher zu sein, als ein Publikum bedienen zu müssen, das sich am Ende des Abends über seine Figuren und deren Gefühle im Klaren ist. Dieser Radikal-Regisseur liebte die Herausforderungen bis an sein Schaffensende – und gab diese Lust an der Zumutung an seine Zuschauer weiter.

Eigensinn war Werner Düggelins Kapital, und das seit Beginn. Die Steine auf seinem Weg zur Theaterlegende des 20. Jahrhunderts hatte er sich anfänglich selbst vor die Füsse gelegt. Er besuchte die Klosterschule Engelberg und den Konvikt Trogen, beide Institute trennten sich frühzeitig von ihm. Auch sein Germanistik- und Romanistikstudium in Zürich waren beides Fehlschläge.

Schliesslich fand er den Ort seiner Erweckung doch, es war das Schauspielhaus Zürich. Düggelin war 1948/49 als besserwisserischer Beleuchter engagiert, später als dramaturgischer Mitarbeiter von Oskar Wälterlin – und stiess auf Leopold Lindtberg. Man weiss nicht, ob jener den Ehrgeizigen aus dem Haus haben wollte oder ob er ihm tatsächlich den Weg zu ebnen gedachte: Lindtberg jedenfalls riet Düggelin, sein Theaterglück in Paris zu versuchen. Von nun an ging alles sehr schnell.

Das Beckett-Erlebnis

Am Rand von Paris, Stadt der Moderne, gründete er, in der Schweiz eben noch eine studentische Hilfskraft, seine eigene Compagnie. Man lebte finanziell zwar prekär, doch die Nachbarschaft internationaler Künstler, Dramatiker, die nach dem Krieg an der Seine eine neue Welt erfinden wollten, war befruchtend. Anregend insbesondere war die Nähe zum Theater des Absurden und die persönliche Bekanntschaft mit Eugen Ionesco.

Düggelin assistierte bald schon beim grossen Schauspieler und Theaterregisseur René Blin, einem Schüler von Bertolt Brecht. Das Fanal war abzusehen: Inspirierend und nachhaltig prägend war die Zusammenarbeit mit Blin an der Uraufführung von Samuel Becketts «Warten auf Godot» im Jahr 1953.

Es war dem Schüler ein «unfassbares Stück», erinnerte sich Düggelin später, doch in Becketts Weigerung, den Inhalt zu erklären, und in seiner Sturheit, auf Fragen nach einer möglichen Bedeutung stets mit «rien» zu antworten, erkannte er sich selbst. Seinerseits ging er diesen Schritt der absoluten Reduktion im Sinne Becketts Ende der 1960er Jahre als Intendant des Basler Theaters, als er Büchners «Woyzeck» inszenierte. Man hatte ihn nach Basel berufen, denn Düggelin galt nach seinen Pariser Jahren im deutschsprachigen Theater als Regisseur von Beckett, Camus und Ionesco.

In seiner «Woyzeck»-Inszenierung hat Düggelin erstmals Becketts unbedingtes Credo zur Meisterschaft gebracht. Er fand zu einer Art von idealem Theater, das sich ganz auf die Schauspieler und auf den Text konzentriert. In einer verdichteten Form verband sich Phantasie mit rigider Konsequenz. Antonin Artaud nannte es «Pureté», bei Werner Düggelin war es diese schwer zu übersetzende Reinheit, die sich aus einer Kompromisslosigkeit speist, die an die Schmerzgrenze – und wenn möglich darüber hinaus – geht.

Let’s rock Basel

Die Jahre, die Düggelin am Theater Basel arbeitete, waren die Zeit, in der die Rheinstadt zum internationalen Begriff wurde. Damals noch eine Provinzbühne, wurde das Dreispartenhaus sozusagen über Nacht zum Inbegriff für zeitgenössisches Theater – heiss geliebt vor allem von einem jungen, studentischen Publikum.

Zwischen 1968 und 1975 soll sich der Zustrom des jugendlichen Publikums nach erhärteten Berichten verhundertfacht haben. Düggelin und der verantwortliche Dramaturg Hermann Beil erreichten die Basler Jugend, indem sie das Haus für Rockkonzerte öffneten und junge Nachwuchskräfte förderten. In Düggelins Direktionszeit wurde zuverlässig fast jedes Jahr mindestens eine Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Mit derselben Offenheit, mit der er Theater betrieb, interessierte sich der Künstler stets für andere Genres. Bereits in den fünfziger Jahren war er Co-Drehbuchautor der Schweizer Filme «Ueli der Knecht» und «Ueli der Pächter»; in den siebziger Jahren realisierte er für das Schweizer Fernsehen unter anderem Charles Ferdinand Ramuz’ «Histoire du Soldat» und Jeremias Gotthelfs «Die Schwarze Spinne». Und immer wieder arbeitete er eng zusammen mit Schweizer Künstlern wie Eva Aeppli, Bernhard Luginbühl und Schang Hutter.

Werner Düggelin war ein für die Schweiz untypischer Träumer von Gegenwelten, die nur aus der Poesie hervorgehen können. Dass er als Stachel im Fleisch diesem Land doch so beharrlich die Treue hielt, ist eines seiner Geheimnisse, die als Frage offenbleiben. Doch seine Hinterlassenschaft ist weit reicher, als es eine Antwort je sein kann.

Werner Düggelin starb in der Nacht auf Donnerstag im Alter von 90 Jahren im Basler Claraspital.