Ein Völkerrechtler mit Beharrlichkeit und Leidenschaft – Luzius Wildhaber ist gestorben

In turbulenten Zeiten stand der Basler Staats- und Völkerrechtler Luzius Wildhaber an der Spitze des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Selbst Putins Machtapparat legte sich mit Wildhaber an – ohne Erfolg. Nun ist Wildhaber gestorben.

Daniel Gerny
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«Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Grundrechte ein für alle Mal in Stein gemeisselt sind», erklärte der Basler Völkerrechtsprofessor und ehemalige Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, Luzius Wildhaber, in seinem letzten Interview mit der NZZ im Frühling 2019 und sagte warnend: «Es entstehen immer wieder neue Bedrohungen.» Als Wissenschafter und Richter hat sich Wildhaber selbst während Jahrzehnten für die Menschenrechte eingesetzt. Er gehörte zu den bedeutendsten schweizerischen Staats- und Völkerrechtler der letzten Jahrzehnte und hat die Rechtsprechung in seinem Bereich national und international stark geprägt. Am 21. Juli ist Luzius Wildhaber im Alter von 83 Jahren gestorben.

Luzius Wildhaber (1937–2020).

Luzius Wildhaber (1937–2020).

Karin Hofer / NZZ

Über seine aktive Zeit als Richter und Professor an der Uni Basel hinaus verfolgte Wildhaber das Zeitgeschehen mit Interesse und Vitalität. Die Entwicklungen in Ländern wie der Türkei, Ungarn oder Polen, in denen Regierungen mit autokratischen Tendenzen den Ton angaben, bereiteten ihm allerdings Sorgen. Die Aufnahme Russlands in den Europarat im Jahr 1996 bezeichnete er nachträglich gar als Fehler. Und die Vorstellung aus der Zeit nach dem Kalten Krieg, wonach sich Länder ausserhalb von Europas Kontinent und in anderen Kulturkreisen vom westlichen Grundrechtsgedanken inspirieren lassen, wertete er im Rückblick als zu optimistisch. Von der Notwendigkeit und der Kraft des Völkerrechts aber blieb Wildhaber trotz allen Rückschlägen in den vergangenen Jahren zutiefst überzeugt.

Standfest – auch wenn Putin drohte

Wildhaber studierte an den Universitäten Basel und Yale Rechtswissenschaft und galt schon früh als juristischer Top-Shot. Er war in den 1960er Jahren an den Arbeiten für die Botschaft des Bundesrates zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ebenso beteiligt wie einige Jahre später an den Vorbereitungen zur Totalrevision der Bundesverfassung unter Bundesrat Kurt Furgler. 1977 wurde er an die Universität Basel berufen, deren Rektor er 1992 bis 1994 war. Schon zu dieser Zeit war er als Richter tätig, bis 1988 am Verfassungsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein, danach bis 1994 am Verwaltungsgericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank.

1991 wurde Wildhaber zum nebenamtlichen Richter des Europäischen Gerichtshofes in Strassburg gewählt. Sieben Jahre später bestimmte ihn die Parlamentarische Versammlung des Europarats im Zuge der Umwandlung in ein ständiges Gericht zum vollamtlichen Richter. Wenig später erfolgte die Wahl zum ersten Präsidenten des ständigen Gerichtshofes. Die wachsende Geschäftslast wurde in dieser Anfangsphase nach der Reform zur grössten Herausforderung für das Gericht. Auch Druckversuche aus den europäischen Hauptstädten auf die Richter nahmen zu. Wildhaber galt indessen nicht nur als fachliche Kapazität auf seinem Gebiet, sondern als äusserst standfest. So blieb er trotz Grossmachtgehabe und offenen Drohungen des russischen Botschafters unter Putin unerschrocken auf Kurs. Um Macht ging es Wildhaber jedoch nicht: Ausschlaggebend war seine Überzeugung, dass das Gericht seine Autorität und Durchsetzungskraft nur wahren könne, wenn gleiche Massstäbe für alle gälten. 2007 trat Wildhaber altershalber von seinem Amt zurück.

Grundrechtsdebatten bis tief in die Nacht

Als Wissenschafter prägte Wildhaber vor seiner Tätigkeit am Strassburger Gerichtshof ganze Generationen von Juristen. Nicht wenige seiner Schülerinnen und Schüler schlugen eine akademische Laufbahn ein und unterrichten heute selbst an Hochschulen. Seine Vorlesungen waren stets anspruchsvoll und dicht, nicht zuletzt deshalb, weil er das Recht als Richter und Professor aus unterschiedlichen Perspektiven kannte und vermittelte. Dabei liebte er die Diskussion mit seinen Studentinnen und Studenten. Legendär waren seine Ski-Lex-Seminare in Sils Maria während seiner Zeit an der Uni Basel. Tagsüber auf den Engadiner Pisten, danach Grundrechtsdebatten in der Villa Laret, oft bis tief in die Nacht hinein: Auch das gehörte zu Wildhabers Leidenschaft für Recht und Gesellschaft.

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