Zwischen allen Fronten denken: Der Schriftsteller und Soziologe Albert Memmi ist gestorben

Heimatlos wie viele unabhängige Denker verbrachte der Soziologe und Schriftsteller Albert Memmi die prägende Zeit seines Lebens. Neben Frantz Fanon gilt er als bedeutendster Prophet der Dekolonisierung.

Sibylle Kroll
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Die Freiheit des Denkens hat einen Preis: Albert Memmi erfuhr Isolation, Entwurzelung und Anfeindung. Die Aufnahme entstand im Jahr 1976.

Die Freiheit des Denkens hat einen Preis: Albert Memmi erfuhr Isolation, Entwurzelung und Anfeindung. Die Aufnahme entstand im Jahr 1976.

Sophie Bassouls / Leemage / Imago

«Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?» Traf man den tunesischen Schriftsteller und Soziologen Albert Memmi zu einem Interview, so geschah es nicht selten, dass sich die Rollen verkehrten und man selbst eine Reihe sehr persönlicher Fragen beantworten musste. Seiner leidenschaftlichen Erforschung des Menschen setzte nur der Tod eine Grenze. Am 22. Mai starb Albert Memmi 99-jährig in Paris.

Geboren wurde der Autor von rund dreissig Romanen, Essays und wissenschaftlichen Studien 1920 in Tunis, wo er als Sohn eines arabischsprachigen jüdischen Sattlers aufwuchs. Dank einem Stipendium der israelischen Gemeinschaft konnte der begabte Schüler das namhafte Lycée Carnot besuchen, wo er mit der französischen Sprache auch den Geist der Aufklärung kennenlernte. Idiom und Ideen seiner künftigen Werke waren damit entscheidend geprägt. Die Fortsetzung des in Algier begonnenen Philosophiestudiums wurde ihm 1942 aus antisemitischen Gründen verwehrt.

Blick fürs Universelle

In Paris, wo er 1946 sein Studium weiterführte, erlebte Memmi eine andere Enttäuschung. Die damals rhetorisch dominierte französische Philosophie entsprach nicht seinem Erkenntnisinteresse. Isolation und finanzielle Not lösten eine tiefe Krise aus, die ihn zur ersten Lebensbilanz zwang: Der Roman «Die Salzsäule» (1953) ist ein kathartischer Rückblick auf Kindheit und Jugend eines arabischen Juden, der sich bei seiner Identitätssuche zwischen orientalischen Wurzeln und westlicher Aufklärung hin und her gerissen fühlt.

Stets waren die Hauptthemen in Memmis eigenem Leben zugleich Ansporn und Gegenstand seines Schreibens. Doch stellte er die Wirklichkeit der Fiktion über die Realität der Biografie. So gelang es ihm, hinter den persönlichen Konflikten das universelle Problem zu beleuchten. 1955 verband der mit einer Elsässerin verheiratete Autor in «Agar» eigene und fremde Erfahrungen zur modellhaften Schilderung einer kulturellen Mischehe zwischen Ideal und Alltag.

Vordenker der Dekolonialisierung

Ab 1951 engagierte sich Memmi in seinem Heimatland für Bourguiba und die Destour-Partei, unter anderem als Gründungsmitglied und Redaktor der Zeitschrift «Afrique Action» (später «Jeune Afrique», heute «L'intelligent»). Ein Jahr nach der Unabhängigkeit erregte er mit seinem Essay «Der Kolonisierte und der Kolonisator» (1957) weltweit Aufsehen. Dieses Doppelporträt, das die psychosozialen Mechanismen der kolonialen Unterdrückung analysierte, löste kontroverse Reaktionen bei allen Betroffenen aus.

Indem Memmi nationale Befreiungsbewegungen prognostizierte, erzürnte er die Linke; mit seiner Kritik an der Religion rief er die muslimischen Gläubigen auf den Plan; schliesslich warf man ihm, der die universellen Werte der Freiheit und Selbstbestimmung über alles stellte, auch von jüdischer Seite Verrat vor. Trotzdem avancierte die Schrift zur Bibel der Unabhängigkeitsbewegungen in aller Welt und machte Albert Memmi zum berühmtesten Propheten der Dekolonisierung neben Frantz Fanon.

Inzwischen war Memmi längst selber zum Opfer der von ihm vorausgesehenen Entwicklung geworden. In einer Zeit nationaler Identitätsfindung gab es keinen Platz für Minderheiten, und so musste der tunesische Jude seine Heimat abermals verlassen – diesmal für immer. Die Auseinandersetzung mit dieser traumatischen Trennung zieht sich von da an durch seine retrospektiven Romane: «Der Skorpion» (1969), «Die Wüste» (1977) und «Der Pharao» (1988) spielen allesamt in Tunesien. Sie zeugen vom Weg eines Menschen, der auf der Suche nach Weisheit in seinem «inneren Königreich» (Memmi) ein Exil gefunden hat und sich schliesslich eher als Nomade denn als Entwurzelter verstand. Nicht von ungefähr betitelte er seine im Symboljahr 2000 publizierten Memoiren «Le nomade immobile».

Auch bei seinen wissenschaftlichen – vor allem soziologischen – Studien ging Memmi von den eigenen existenziellen Erfahrungen aus, die er durch gezielte Beobachtung und Erhebung erweiterte, um sie sodann in allgemein gültige Theorien zu giessen. Die Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität, kulminierend in einer Reise durch den neu gegründeten Staat Israel, mündete in die beiden Werke «Portrait d'un Juif» (1962) und «Libération d'un Juif» (1966), in denen der erklärtermassen unparteiische, rationalistische Autor unter anderem die Gründung eines palästinensischen Staates forderte.

Auch das Glück hat seine Zeit

Seit 1970 Leiter der Abteilung Soziologie an der Universität Nanterre, wandte sich Memmi nun zwei Gegenständen zu, die er immer wieder aufgreifen sollte: Die Skizze über die Abhängigkeit des Menschen («La Dépendance», 1979) trug ihm den Prix Fénéon ein, seine Studie zum Rassismus («Le Racisme», 1982) wurde zum Standardwerk.

Wenn Memmi sich in seinen letzten Schriften mit eher privaten Themen wie dem Glücklichsein beschäftigte, war dies nicht als Rückzug in die Intimität zu werten, sondern als bewusste Abrundung eines imposanten Lebenswerkes. Mit Albert Memmi verliert die intellektuelle Welt einen unabhängigen und agnostischen Denker, einen ebenso fundierten wie vielseitigen Autor, der als unermüdlicher Sondierer der condition humaine das Erbe seines frühen Bewunderers Camus fortführte.