Ein eleganter Provokateur: Der Schauspieler Michel Piccoli ist tot

Er drehte mit Hitchcock und Godard und teilte die Leinwand mit Stars wie Brigitte Bardot und Romy Schneider. Nun ist der französische Schauspieler im Alter von 94 Jahren gestorben.

Patrick Straumann
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Michel Piccoli und Brigitte Bardot in «Le mépris».

Michel Piccoli und Brigitte Bardot in «Le mépris».

Er war nie ein ganz Grosser. Aber die ganz Grossen haben auf Michel Piccoli gesetzt. Jean-Luc Godard etwa castete den Franzosen 1963 für die Rolle von Brigitte Bardots Ehemann in «Le mépris». Erstaunlicherweise machte ihn jedoch selbst die anschliessende internationale Laufbahn nicht zum Star: Obschon er mit Liliana Cavani, Theo Angelopoulos und Alfred Hitchcock (in «Topaz») drehte, kontrastierte Piccolis Bekanntheitsgrad als Schauspieler mit dem geringen Interesse, das sein Privatleben zu wecken vermochte.

Der – relative – Mangel an medialer Aufmerksamkeit ist vermutlich seiner erratischen Laufbahn zuzuschreiben: Piccolis Gesicht war dem Publikum vertraut, doch die von ihm gespielten Charaktere waren zu unberechenbar, als dass sich seine Züge je zur Ikone verdichtet hätten.

Vom Provinzbourgeois bis zum alternden Libertin

Eine beeindruckende Demonstration seiner präzisen Gestik ist in der Schlussszene von Claude Sautets «Max et les ferrailleurs» zu sehen, in der seine leise zitternde Hand seiner Beziehung zu der von Romy Schneider gespielten Prostituierten eine unerwartete Tiefe verleiht.

Auch aus Ferreris «Dillinger è morto», dessen Protagonist zufällig eine Pistole findet und darauf seine Frau erschiesst, ist Piccolis magnetische Interpretation nicht wegzudenken: Hier ist es sein minimalistischer, sich jeder Psychologie verweigernder Ausdruck, der diese Gesellschaftssatire ins Surreale überführt.

Sein irisierendes Spiel hatte es Piccoli ermöglicht, eine umfassende Galerie soziologischer Typen zu verkörpern – vom Provinzbourgeois bis zum Präfekten («Le fantôme de la liberté», 1974), vom Geheimagenten bis zum alternden Libertin («Belle toujours», 2006, von Manoel de Oliveira).

Seine Karriere erstreckte sich über mehr als sechs Jahrzehnte und umfasst gut zweihundert Filme, bei deren Auswahl er – oft auch unter Verzicht auf grössere Honorare – eine geschmackssichere Hand bewies. Erste Nebenrollen besetzte Piccoli bei Christian-Jaque («Sortilèges», 1945) und Jean Delannoy; auch René Clair verpflichtete ihn und ebenso Jean Renoir, in dessen «French Cancan» er sich gegenüber Jean Gabin und Edith Piaf zu behaupten wusste.

Seine erste Hauptrolle übernahm Piccoli 1949 in «Le point du jour»; 1956 konnte er Luis Buñuel davon überzeugen, ihn für die Figur des Priesters Lizardi in «La mort en ce jardin» zu casten. Die Begegnung mit dem spanischen Surrealisten sollte ein reiches Nachspiel haben: Sie führte nicht nur zu insgesamt sechs zusammen gedrehten Spielfilmen; der «Humor» und die «leichte Verrücktheit», die Buñuel dem Schauspieler in seinen Erinnerungen attestierte, beeinflussten auch die gemeinsam erarbeiteten Figuren und liessen insbesondere den Henri Husson in «Belle de jour» (1966) zu einer von Piccolis prägnantesten Kompositionen werden.

Spielen, wie Munch gemalt hat

Seine verhalten-elegante Körpersprache verlieh ihm eine virile Ausstrahlung, die allerdings auch einen sanften Ausdruck annehmen konnte – seine diskret feminine Seite hatte namentlich Jacques Demy erkannt, als er ihm in «Les demoiselles de Rochefort» zwischen Catherine Deneuve und Françoise Dorléac eine Nebenrolle als «Monsieur Dame» anvertraute.

Jede Dissonanz, die zur Komplexität seiner Figuren beitrug, schien er zu begrüssen – den rosa Pullover in «La grande bouffe» wie die provokanten Dialogzeilen, die er in «La voie lactée» in der Rolle des Marquis de Sade deklamierte.

Diese Neigung zum Disparaten, die sich ebenfalls in seiner Bewunderung für Buster Keaton spiegelte, gründete auf einer Konzeption des Schauspiels, die Piccoli einst folgendermassen umschrieben hatte: «Ich würde gerne so spielen, wie Munch gemalt hat: Wenn man das Bild von weitem ansieht, erkennt man jemanden, der schreit. Nähert man sich der Leinwand, so sieht man nur ein grosses Durcheinander, eine Unordnung.»

Es war dieser Sinn fürs Unkontrollierbare und Fliessende, der seinen Figuren ihre innere Spannung verlieh. In Jacques Rivettes «La belle noiseuse», einer freien Umsetzung von Balzacs «Le chef-d’œuvre inconnu», verkörperte er den Kunstmaler Frenhofer, der in seiner ambivalenten Beziehung zu seinem Modell unvermittelt auch Einblick in die Dynamik eines kreativen Prozesses gab.

Michel Piccoli als Jurymitglied am Filmfestival Cannes, Mai 2007.

Michel Piccoli als Jurymitglied am Filmfestival Cannes, Mai 2007.

Lionel Cironneau / AP

Auch auf der Bühne gefragt

Parallel zu seiner Laufbahn im Film debütierte der 1925 in Paris geborene Schauspieler Mitte der vierziger Jahre auch im Theater. Die Engagements, die er unter anderem in Jean Vilars «Phèdre» und Claude Régys «Penthesilea» erhielt, liessen ihn an einigen der damals meistbeachteten Bühnenexperimenten teilnehmen.

Auf der Bühne war es das dunkle Timbre seiner Stimme, das in den oft leise vorgebrachten Gefühlsäusserungen auch die inneren Risse seiner Charaktere aufzeigen konnte. In Marguerite Duras’ «La maladie de la mort», 1997 von Robert Wilson inszeniert, gelang es ihm, die hieratische Erscheinung des Protagonisten durch sein kristallines Lachen zu relativieren.

Von André Engels «Roi Lear», dessen Titelfigur er 2005 mit achtzig Jahren im exakten Alter der Rolle verkörperte, bleibt sein müder Atem in Erinnerung, der die mächtige Gebrechlichkeit des Monarchen bis in die hintersten Reihen des Zuschauerraums zu tragen vermochte.

Zuletzt stand Piccoli 2014 für den Film «Le goût des myrtilles» vor der Kamera. Nun ist der französische Schauspieler 94-jährig gestorben, wie die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf seine Familie berichtet.