Nachruf auf Janis Lusis Der größte Zweikampf der Speerwurf-Geschichte
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In Lettland war er Nationalheld: Janis Lusis
Foto:Rolls Press/ Popperfoto via Getty Images
Janis Lusis ist sechs Jahre alt, da erlebt er, wie sein Vater ermordet wird. 1945 ist die Rote Armee wieder in Lettland eingerückt, sowjetische Soldaten ziehen plündernd durchs Land, üben Vergeltung auch dafür, dass lettische Verbände sich zuvor auf die Seite von SS und Wehrmacht gestellt hatten. Eines der Opfer dieser Plünderungen ist Lusis' Vater.
20 Jahre später ist Janis Lusis ein Sportheld der Sowjetunion.
Die Geschichte von Janis Lusis ist auch eine Geschichte der Nachkriegszeit, von der Einverleibung des Baltikums durch die UdSSR, später von der Unabhängigkeit Lettlands nach 1989.
Die Geschichte von Janis Lusis ist aber auch die Geschichte von Klaus Wolfermann.
Lusis war das Vorbild von Wolfermann, ein Speerwurf-Heros, dieser lettische Modellathlet, ein Superstar seines Sports, vier Mal nacheinander wurde er Europameister. Wolfermann versuchte, ihn zu imitieren, obwohl er ein ganz anderer Typ war, gedrungener, kleiner. Dennoch hat der Deutsche versucht, sich bei Lusis etwas abzuschauen.
Wolfermann rechnete sich wenig aus
Ihre Wege haben sich oft gekreuzt, sie haben sich gegenseitig Rekorde abgejagt, jahrelang waren sie Konkurrenten. Am 3. September 1972 begegnen sich beide in München wieder, es ist das größte Duell der olympischen Speerwurf-Geschichte. Dieser 3. September ist ein Tag, der einen besonderen Platz hat im Gedächtnis der bundesdeutschen Leichtathletik, und Klaus Wolfermann und Janis Lusis haben ihren Anteil daran.
Lusis ist damals schon 33 Jahre alt, bereits zehn Jahre zuvor ist er erstmals Europameister geworden, aber er steht immer noch im Zenit seines Könnens. Erst im Juli 1972 hat er in Stockholm einen Weltrekord aufgestellt, hat den Speer auf 93,80 Meter Weite gewuchtet, "für mich galt er als unbesiegbar", hat Wolfermann in der Rückschau gesagt.
Wolfermann, sieben Jahre jünger als sein Rivale, gilt zwar auch als Medaillenanwärter, zumal mit dem Heimvorteil im Rücken, aber er hat erst kurz vor den Spielen erstmals über 90 Meter geworfen, Lusis dagegen wirft den Speer fast serienmäßig über diese magische Marke. 1968 in Mexiko-Stadt hat der Lette Gold gewonnen, natürlich, wer sonst?
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Lusis bei seinem Wettkampf in München
Foto: APLusis übernimmt gleich mit dem ersten Wurf deutlich über 88 Meter die Führung, eine Machtdemonstration, der erste Versuch ist im Speerwurf oft schon eine Vorentscheidung, ein Zeichen an die Mitbewerber, heute würde man sagen: ein Statement. Wolfermann hält mit einem Wurf ebenfalls über die 88er-Marke dagegen. An diesem Tag will er sich nicht von Lusis beeindrucken lassen. Dennoch bleibt die Führung des Letten ungefährdet, Lusis legt im vierten Durchgang mit 89,54 Metern noch einen drauf. Der Sieg scheint ihm nicht zu nehmen.
Dann kommt der fünfte Versuch Wolfermanns, "draufhauen, das Ding muss fliegen", habe er sich gedacht. Und das Ding flog. Der Speer bleibt zitternd bei 90,48 Metern im Rasen des Münchener Olympiastadions stecken. Lusis sitzt auf einer Bank und isst einen Apfel, der sei dem Favoriten, so erzählt Wolfermann später, vor Schreck aus der Hand gefallen.
Aber noch bleibt Lusis ein letzter Versuch. In Mexiko 1968 hat er damals im letzten Durchgang dem Finnen Jorma Kinnunen noch das Gold entrissen, Lusis ist ein Wettkampftyp. Also legt er noch einmal alles in diesen Wurf, das Münchner Publikum hält den Atem an, der Speer landet jenseits der 90 Meter, die Preisrichter messen, dann der Jubelschrei: Lusis hat "nur" 90,46 Meter geworfen. Zwei Zentimeter zu wenig. Der große Favorit ist geschlagen. Wolfermann geht zu ihm und entschuldigt sich dafür, dass er gewonnen hat. Lusis sagt: "Macht nichts, ich habe meine Goldmedaille ja schon." Es klingt gewaltig abgedroschen, aber es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
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Lusis' Dauerrivale Klaus Wolfermann
Foto:Roland Witschel DPA
Wolfermann und Lusis bleiben sich von da an und für die kommenden fast 50 Jahre verbunden, sie besuchen sich gegenseitig, laden sich zum Geburtstag ein, schon zu Zeiten des Kalten Krieges, später nach dem Ende der Sowjetunion und der neuen Souveränität Lettlands umso mehr. Ihre Familien lernen sich kennen, Lusis ist verheiratet mit Elvira Ozolina, natürlich Speerwerferin, natürlich Olympiasiegerin, sein Sohn Voldemars wird natürlich Speerwerfer, auch er nimmt natürlich an Olympischen Spielen teil, zur Medaille reicht es 2000 und 2004 allerdings nicht.
Der Goldene Sonntag
Dieser 3. September ist nicht nur Wolfermann und Lusis unvergessen, an diesem Goldenen Sonntag gewinnen innerhalb weniger Stunden noch Hildegard Falck über die 800 Meter und Bernd Kannenberg im Gehen Gold für den DLV. Für viele ist dieser Tag der Höhepunkt der Spiele, zwei Tage später stürmen Palästinenser das Olympische Dorf, und der Traum von den heiteren Spielen versinkt im Terror.
Janis Lusis beendet 1976 nach den Olympischen Spielen von Montreal seine Laufbahn, noch als 68-Jähriger nimmt er an Seniorenwettkämpfen teil und schleudert den Speer auf mehr als 50 Meter. Gelernt ist gelernt.
Mit 80 Jahren ist Janis Lusis gestorben. Er startete für die Sowjetunion, aber er ist Lettlands größter Sportler gewesen.