Vor den Nazis geflohen, kam er nach dem Krieg mit Franz Kafka nach Deutschland zurück

Der Germanist Hans Siegbert Reiss ist 97-jährig in Heidelberg gestorben. Er unterrichtete sein Leben lang in Kanada und England.

Konrad Feilchenfeldt
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Als Hans Siegbert Reiss 1939 auf dem Weg nach Irland die deutsch-niederländische Grenze bei Emmerich überquerte, war er 17 Jahre alt und völlig auf sich selbst gestellt. Seine Eltern waren in Deutschland geblieben und hatten, nachdem in der Pogromnacht 1938 ihre Wohnung in Mannheim fast völlig verwüstet worden war, veranlasst, dass der Sohn, ihr einziges Kind, Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollte.

Die Trennung der Familie war der hohe Preis für diese Entscheidung, und es war nur seiner Mutter, der Schauspielerin Maria Reiss-Petri, zu verdanken, dass sie selbst und ihr jüdischer Mann in den folgenden Jahren bis zum Kriegsende vor der Deportation bewahrt geblieben sind. Nur wie durch ein Wunder haben Berthold Reiss und seine Frau in Heidelberg den Krieg unversehrt überlebt und konnten ihren Sohn, der seit seinem Abschied aus Deutschland ohne jeden Kontakt mit ihnen geblieben war, bald nach Kriegsende wieder in ihre Arme schliessen.

Studium in Dublin

Der Sohn Hans Siegbert hatte dank der Vermittlung christlicher Hilfsorganisationen einen Studienplatz in Dublin zugewiesen bekommen und seine akademische Ausbildung unter den strengen Regeln englischer Schulhierarchie fortgesetzt. Seine eigene Persönlichkeit entwickelte sich unter diesem Eindruck zu einer für jeden, der ihn kannte, spürbaren Autorität, die ihn bei aller Herzlichkeit und seinem witzigen Charme niemals verliess, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt und es durchzusetzen beschlossen hatte.

Er promovierte am Ende seiner Irland-Jahre am Trinity College in Dublin in Germanistik mit einer Arbeit über Arthur Schnitzler und wechselte anschliessend auf seine erste Stelle bei der School of Economics nach London. 1958 erhielt er einen Ruf auf den Germanistik-Lehrstuhl der McGill-Universität in Montreal. Von dort kehrte er zusammen mit seiner Frau Linda, die er in Kanada kennengelernt hatte, nach England zurück und war von 1965 bis 1988 Professor für Germanistik in Bristol.

Hans Reiss war in seinem Beruf eine Ausnahmeerscheinung, weil er seine Stellung dazu nutzte, sich mit einem weitgespannten Netzwerk ihm verbundener Kollegen, einerseits aus England und dem Kontinent und andererseits aus dem eigenen und aus fremden Fachgebieten, zu verknüpfen. Ein grosser Anteil seines fachlichen Erfolgs geht auf die Pflege dieses Netzwerks und aus diesem Netzwerk heraus entstandener Freundschaften zurück.

Kafka- und Goethe-Forscher

Dabei war Reiss kein Parteigänger, sondern ein Einzelkämpfer auch in seinem Fach. So war er der erste Literaturwissenschafter, der nach dem Krieg Franz Kafka in Deutschland bekannt machte, natürlich als Vortragsreisender, was ihm gleichzeitig Gelegenheit gab, Kontakte zu knüpfen, aber nicht etwa, um in Deutschland als Emigrant um Verständnis für seine eigene Betroffenheit und für sein jüdisches Schicksal zu werben.

Die Verleihung der Goldenen Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft Weimar bedeutete wiederum für ihn die erhoffte Anerkennung für seine Arbeiten, die ihrerseits ganz im Zeichen des Netzwerkgedankens standen. Erst in späteren Jahren rückte die selbst erlebte Gegenwart in den Fokus seines fachlichen Interesses, indem er sich mit Elias Canetti, mit Victor Klemperer oder auch mit Ernst Schneider – SS-Mitglied und Literaturwissenschafter – auseinandersetzte, der nach dem Krieg als Hans Schwerte bis zu seiner Enttarnung eine zweite wissenschaftliche Karriere begann.

Ein Handelsreisender

Ebenso wie Hans Reiss selbst gerne als Vortragender auf Reisen ging, hat er eine grosse Anzahl Germanisten aus dem Kontinent nach Bristol zu Vorträgen eingeladen oder nach England zu Vortragsreisen vermittelt und auch damit einen Beitrag zu seiner Netzwerkidee geleistet.

Ich erinnere mich noch gut, als er mich bei einem Gastvortrag seinen Studenten in Bristol vorstellte und dabei meinte, dass es dazu kaum vieler Worte bedürfe, da ich ja durch meine Schriften ausreichend bekannt sei, und vor allem sei er sich gewiss, dass in Vorbereitung auf den aktuellen Vortrag sicher bei allen anwesenden Studenten zu Hause auf dem Nachttisch ein Exemplar meiner Dissertation als Nachtlektüre bereit liege. So ernsthaft klangen seine witzigen Bemerkungen.

Am 2. April ist Hans Reiss, der vor zehn Jahren aus England mit seiner Frau nach Heidelberg zurückgekehrt war, in seinem 98. Lebensjahr gestorben.

Konrad Feilchenfeldt ist emeritierter Professor für neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.