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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte zu Pushbacks "Das Urteil macht die Festung Europa dicht"

Abschiebung ohne Asylantrag: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält das unter bestimmten Umständen für rechtens. Anwalt Wolfgang Kaleck, der die Kläger unterstützt hat, ist entsetzt.
Ein Interview von Steffen Lüdke
Hinter dem Zaun liegt Europa: Migrant auf der Grenzanlage in Melilla

Hinter dem Zaun liegt Europa: Migrant auf der Grenzanlage in Melilla

Foto: ANTONIO RUIZ/ AFP

Die Entscheidung ist ein Präzedenzfall, der die gesamte europäische Migrationspolitik verändern könnte: Am Donnerstag verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass Spaniens Behörden 2014 rechtmäßig handelten, als sie zwei Migranten aus Mali und der Elfenbeinküste direkt wieder abschoben. Zuvor waren die beiden Männer in einer großen Gruppe über Grenzzäune zwischen Marokko und Spaniens nordafrikanischer Enklave Melilla geklettert.

Die spanische Polizei gewährte den Männern keinen Anwalt, keinen Übersetzer. Sie ließ ihnen keine Chance auf einen Asylantrag. Stattdessen brachten die Beamten die Migranten direkt wieder zurück auf die marokkanische Seite des Zauns.

Alles rechtens, befand der EGMR, obwohl genau diese Praxis bisher als illegal galt. Die Begründung: Die Männer seien in einer großen Gruppe und unter Anwendung von Gewalt über den Zaun gelangt. Sie hätten die Grenze illegal überwunden und nicht einmal versucht, auf regulärem Weg Asyl zu beantragen, etwa am Grenzposten.

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Menschenrechtler sind fassungslos. Sie bleiben bei ihrer Darstellung, wonach es für Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara so gut wie unmöglich sei, zu den Grenzübergängen zu gelangen, um dort Asyl zu beantragen. Die marokkanische Polizei greife sie gezielt heraus und verjage sie.

Noch vor wenigen Tagen hatte sich die spanische Regierung darauf eingestellt, die "devoluciónes en caliente", wie die Abschiebungen in Spanien genannt werden, neu zu regeln, womöglich sogar zu verbieten. Nun könnte sie davon wieder Abstand nehmen.

Der Jurist Wolfgang Kaleck hat die beiden Kläger bei ihrem Verfahren unterstützt. Im Interview spricht er über die Bedeutung und die möglichen Folgen des Urteils.

SPIEGEL: Herr Kaleck, was haben Sie gedacht, als das Urteil verkündet wurde?

Kaleck: Wir waren geschockt. Das Urteil hat unsere schlimmsten Erwartungen übertroffen. Statt Spanien für seine systematischen Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen, hat der Menschenrechtsgerichtshof sich gegen jene gestellt, die den Schutz dieser Institution brauchen. In der Menschenrechtskonvention heißt es: Kollektive Abschiebungen sind verboten. Laut Gericht gilt nun: Kollektive Abschiebungen sind nur dann verboten, wenn die betroffenen Migranten nicht irregulär eingereist sind. Faktisch stehen aber keine legalen Einreisewege offen. Diese Argumentation entleert den Sinn der Europäischen Menschenrechtskonvention vollkommen.

SPIEGEL: Was bedeutet das Urteil für den Flüchtlingsschutz insgesamt?

Kaleck: Das Urteil widerspricht dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Uno-Flüchtlingskonvention. Beide waren eine Reaktion auf nationalsozialistisches Unrecht. In dieser Zeit wurden Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer politischen Überzeugungen verfolgt, daraus wollte die Weltgemeinschaft lernen. Niemand sollte jemals mehr ausgewiesen werden können, ohne dass zuvor ein individuelles Verfahren durchgeführt wurde.

"Das Urteil wird andere Staaten an Europas Außengrenzen ermutigen, Geflüchtete als rechtlos zu behandeln"

Das Urteil ist ein weiteres Element, um die Festung Europa dichtzumachen. Es wird andere Staaten an Europas Außengrenzen ermutigen, Geflüchtete als rechtlos zu behandeln.

SPIEGEL: Was bedeutet das Urteil für die Praxis an der spanischen Außengrenze?

Kaleck: Das Uno-Kinderrechtskomitee hat einen vergleichbaren Fall bereits anders entschieden und Spanien verpflichtet, seine Praxis an der Grenze zu ändern. Minderjährige, die über den Zaun kommen, muss Spanien also schützen. Sie dürfen nicht zurückgewiesen werden. Hieran ändert auch die Entscheidung des EGMR nichts.

Die spanische Polizei aber bringt die Migranten zurück, ohne mit ihnen zu reden. Sie stellt also überhaupt nicht fest, ob die Schutzsuchenden minderjährig sind. Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll. Die linke spanische Regierung muss mit dieser widersprüchlichen Rechtslage nun umgehen.

Direkt zurück nach Marokko: Ein spanischer Polizist hilft Migranten in Melilla hinab

Direkt zurück nach Marokko: Ein spanischer Polizist hilft Migranten in Melilla hinab

Foto: STRINGER/SPAIN/ REUTERS

SPIEGEL: Auch in Kroatien, Ungarn, Mazedonien und offenbar auch in Griechenland finden diese sogenannten Pushbacks statt. Für die Richter war entscheidend, dass die Migranten irregulär über die Grenzen kamen, obwohl reguläre Alternativen für einen Asylantrag ihrer Meinung nach zur Verfügung standen. Dieses Kriterium lässt sich theoretisch ohne Weiteres auf andere Grenzen anwenden.

Kaleck: Erst einmal: Die Annahme, Migranten an spanisch-marokkanischen Grenzen könnten einfach Asyl beantragen, ist absolut realitätsfern. Denn die marokkanische Polizei sorgt dafür, dass die Menschen gar nicht bis zu den spanischen Grenzposten kommen. Das weiß auch der EGMR, das haben auch die Menschenrechtsbeauftragte des Europarats und das Uno-Flüchtlingshilfswerk hervorgehoben.

Die Situation unterscheidet sich zudem von Grenze zu Grenze. Niemand vermag derzeit einzuschätzen, was das Urteil für Flüchtende bedeutet, die nur einen Fluss überqueren. Es sind noch viele andere Fälle zu Pushbacks vor dem Gerichtshof anhängig. Es bleibt abzuwarten, wie hier geurteilt wird.

Die jüngste Entscheidung ist aber besonders enttäuschend, weil der EGMR in der Tradition stand, Menschenrechte eher befördert als beschränkt zu haben. Deswegen ist sie auch weltweit ein verheerendes Signal.

SPIEGEL: Man könnte auch argumentieren, dass die Entscheidung eine europäische Grenzpolitik ermöglicht, in der die Mauern nicht immer höher und die Messer auf den Zäunen nicht immer schärfer werden müssen.

Kaleck: Niemand hat den EU-Regierungen verboten, legale Fluchtwege zu schaffen. Die Forderung und die Möglichkeit bestehen seit Jahren. Stattdessen wurde beispielsweise das Botschaftsasyl abgeschafft. Es gibt bislang keine Möglichkeit, in einer Botschaft erfolgreich einen Asylantrag zu stellen.

"Gerichte sind nur die letzte Zuflucht"

SPIEGEL: Die EU externalisiert ihren Grenzschutz seit Jahren. Libysche, türkische, marokkanische Grenzschützer halten Schutzsuchende zunehmend davon ab, an die europäischen Grenzen zu gelangen. Das Gericht hat explizit darauf hingewiesen, dass Spanien nicht zwingend dafür verantwortlich gemacht werden kann, was marokkanische Sicherheitskräfte tun. Was bedeutet das?

Kaleck: Das Urteil fördert diesen Trend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bedeutet für Schutzsuchende offenbar keine Hoffnung mehr. Aber das kann sich auch wieder ändern. Gerichte sind nur die letzte Zuflucht. Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass die Europäer wieder für die von ihnen behaupteten Werte und vor allem für die Grundrechte aller Menschen einstehen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.