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Widerstand gegen Überwachung Moskau rüstet auf

In Moskau sollen 200.000 Kameras mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet werden. Vorbild ist China. Geht es wirklich nur darum, Verbrechen zu bekämpfen? Eine Aktivistin wehrt sich gegen die Pläne.
Vor der Duma in Moskau protestiert die russische Aktivistin Aljona Popowa mit einer Pappfigur des Parlamentariers Leonid Sluzki

Vor der Duma in Moskau protestiert die russische Aktivistin Aljona Popowa mit einer Pappfigur des Parlamentariers Leonid Sluzki

Foto: Mladen ANTONOV/ AFP

Aljona Popowa hat sich das Video der Überwachungskamera oft angeschaut: Wie sie vor der Staatsduma in Moskau steht, in der rechten Hand eine lebensgroße Pappe mit dem Bild von Leonid Sluzki, dem Vorsitzenden des Außenausschusses. Er soll Parlamentskorrespondentinnen verbal belästigt und sogar angefasst haben.

Immer wenn sie den Kopf rechts zur Seite dreht, zoomt die Kamera ran. Ein, zwei, drei Mal geht das so - sie zählt mit, in den vier Stunden, die aufgezeichnet wurden, sind es am Ende 40 Mal.

"Wer hat ein Interesse daran, mein Gesicht aufzunehmen? Warum?", fragt sie. Die Bilder stammen aus dem Frühjahr vergangenen Jahres, Sluzki ist noch im Amt - Protesten wie dem von Popowa zum Trotz. Sie wurde dafür festgenommen, zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Verfahren gegen sie wurde das Video als Beweis gezeigt.

Ein Dauerplatz in der Datenbank

Popowa macht nicht nur das Urteil wütend, schließlich stand sie allein vor der Duma, was nach russischem Gesetz eigentlich erlaubt ist. Sie ist sich sicher, dass ihr Gesicht längst in einer der Datenbanken der Behörden gespeichert ist, dass die Kamera ranzoomte, um sie zu identifizieren. Die Polizisten sprachen sie bei der Festnahme mit Namen an, dabei hatte sie sich noch gar nicht ausgewiesen.

Sie weiß es bis heute nicht, wem die Kamera gehört und in welcher Datenbank ihre Daten stecken. Sie hat die Behörden angeschrieben - alles sei nach dem Gesetz abgelaufen, hieß es.

Popowa will daran nicht glauben, auch weil im August 2018 der Aktivist Michail Aksel in einer Metrostation vorübergehend festgenommen wurde. Kameras hätten ihn als angeblichen Verbrecher identifiziert, erklärte ein Polizist dem Mitglied einer inzwischen verbotenen oppositionellen Partei. Ein Beamter einer Polizeieinheit, die gegen Extremismus vorgeht, hatte sein Foto in die Datenbank für gesuchte Kriminelle eingespeist. Auf die Frage, wie er aus der Datenbank wieder gelöscht werden könne, habe ihm ein Polizist geantwortet: "Gar nicht."

Die Behörden informieren nur spärlich

Bürgermeister Sergej Sobjanin hat angekündigt, dass im kommenden Jahr alle Überwachungskameras der Stadt Moskau - das sind mehr als 200.000 - mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet werden sollen. Er wolle aus Moskau eine der sichersten Städte der Welt machen, dafür eines der größten Überwachungssysteme einsetzen, vergleichbar mit manchen Städten in China.

Die Kameras befinden sich in der Metro, in Schulen, Parks, aber auch in den Hauseingängen und Höfen der russischen Hauptstadt. Jedes Jahr werden es Tausende mehr, auf fast alle haben die Behörden Zugriff.

Nach den Protesten im Sommer war Anfang September bekannt geworden, dass die Abteilung für Informationstechnologie der Stadt Moskau für 260 Millionen Rubel, rund 3,6 Millionen Euro, technische Leistungen und Analysen für Videoaufzeichnungen, darunter auch Gesichtserkennung, eingekauft hat. Die sollen bei "Großereignissen", also auch politischen Demonstrationen, zum Einsatz kommen.

Überwachungskameras an einem Laternenpfahl nahe des Kreml

Überwachungskameras an einem Laternenpfahl nahe des Kreml

Foto: Dmitry Serebryakov/ ITAR-TASS/ imago images

Schon jetzt arbeiten mindestens 3000 der Kameras in Moskau mit Gesichtserkennung. Informationen dazu veröffentlichen die Behörden nur spärlich:

  • Software zur Gesichtserkennung wurde in Moskau schon während der Fußball-WM 2018 eingesetzt, etwa in den Bereichen um die Stadien, aber auch in Metrostationen. Welche das genau waren, ist bis heute nicht klar.
  • In einer U-Bahn-Station der Hauptstadt wurde ein Pilottest für ein Programm zur Erkennung von Gesichtern unternommen. Mit welchem Ergebnis der endete, ist nicht bekannt.
  • 100 Straftäter seien bereits dank Gesichtserkennungssoftware gefasst worden, teilte Innenminister Wladimir Kolokolzew unlängst mit.

Wie so oft in Russland schaffen die Behörden Tatsachen. Anders als in westlichen Ländern, wo um die Balance zwischen Maßnahmen für die öffentlichen Sicherheit und Schutz der Privatsphäre gerungen wird, findet keine öffentliche Debatte statt.

"Wer Daten über dich sammelt, besitzt dich"

Popowa, die in Russland für ihren Einsatz für Frauenrechte bekannt ist, hat einen neuen Kampf begonnen, den um ihre Daten. "Sie verfolgen uns sieben Tage die Woche, 24 Stunden lang, egal wo, nicht nur an sicherheitsrelevanten Orten wie Flughäfen", sagt sie. "Wir müssen besser verstehen, wie das Gesichtserkennungssystem funktioniert." Sie befürchtet eine "digitale Diktatur": "Wer Daten über dich sammelt, besitzt dich".

Popowa wird dabei von IT-Experten wie Alexej Sidorenko unterstützt: "Das Problem in einem Land wie Russland ist, dass die Menschen keine Möglichkeit haben, die Sicherheitsorgane zu kontrollieren. Die machen was sie wollen."

Menschenrechtler wie Damir Gajnutdinow von der Organisation Agora verweisen auf die Telefonüberwachung: "Formal brauchen die Sicherheitsbehörden einen richterlichen Beschluss dafür, in der Praxis bekommen sie ihn in 98 bis 99 Prozent der Fälle, also fast immer." Der Jurist warnt, dass es eben nicht nur um die Verbrechungsbekämpfung, sondern auch die Verfolgung von Kritikern gehe. Zudem bestünde im korrupten Russland die Gefahr, dass Datenbanken mit biometrischen Informationen auf dem Schwarzmarkt landen.

Vom FSB zertifiziert

Noch hat die Stadt Moskau die angekündigte Ausschreibung für die Gesichtserkennungssoftware nicht veröffentlicht, wie das Unternehmen Ntechlab dem SPIEGEL bestätigt. Es will sich bewerben. Die Firma hatte das Programm FindFace veröffentlicht, das bis vergangenen Jahres noch frei verfügbar war, der Algorithmus machte mit seiner hohen Trefferquote Schlagzeilen.

Inzwischen hat der Geheimdienst FSB den Algorithmus zertifiziert. Die Fehlerquote liege nur noch bei eins zu 15 Millionen, wie Alexander Minin, Hauptgeschäftsführer des Unternehmens, sagt. Das Sammeln und Speichern biometrischer Daten bei der Gesichtserkennung sei "einer der meist reglementierten Bereiche in Russland", sagt er. Popowas Vorgehen nennt er vor allem PR in eigener Sache.

Bürgermeister Sergej Sobjanin (l.) und Wladimir Putin im Zentrum von Moskau, das eine der sichersten Städte der Welt werden soll

Bürgermeister Sergej Sobjanin (l.) und Wladimir Putin im Zentrum von Moskau, das eine der sichersten Städte der Welt werden soll

Foto: ALEXEI DRUZHININ/ AFP

Informationen per Klage erzwingen

Das weist die Aktivistin zurück. Sie sagt, es gehe ihr um Aufklärung. Popowa sitzt am Mittwoch mit ihren drei Anwältinnen in einem Gericht nahe des Weißrussischen Bahnhofes. Sie hat das Innenministerium, die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor und die Abteilung für Informationstechnologie verklagt. Die Aktivistin will so mehr Informationen erhalten, die eingesetzte Gesichtserkennungssoftware verbieten lassen.

In dem kleinen Sitzungssaal drängen sich die Journalisten. "Ich bin gegen die totale Überwachung", sagt Popowa. Sie sehe ihre Rechte verletzt. Sie beruft sich auf Artikel 23 der Verfassung, wonach jeder Mensch ein Recht auf Privatsphäre hat, und auf das Gesetz über persönliche Daten, welches das Sammeln von Daten, auch biometrischen, ohne Zustimmung des Betroffenen verbietet. Nun weiß Popowa auch, dass es viele Gesetze in Russland auf dem Papier gibt, die Wirklichkeit aber eine andere ist.

Sie will von den Anwälten der Gegenseite wissen, welche biometrischen Daten gesammelt werden. Man habe keine solche Informationen, sagt die Juristin, die die Abteilung für Informationstechnologie vertritt. "Wir verfolgen keine Bürger." Man kenne keine Frau Popowa, habe nur Kameras, keine Datenbanken.

Die besitzt dafür das Innenministerium, wie dessen Anwalt bestätigt, angeblich aber nur mit Informationen über Verbrecher - und ja, sagt er irgendwann, man verfüge über biometrische Daten. Er schwitzt. Dreieinhalb Stunden geht es hin und her, die Juristen der beklagten Behörden geben sich alle Mühe, möglichst vage zu bleiben.

Am Ende liest die Richterin das Urteil vor: "Klage abgewiesen."

Popowa hat das erwartet, sich auf einen langen Kampf eingestellt. "Wie immer braucht man in Russland einen Plan, B, C und D - und den haben wir." Sie kündigt Berufung und Klagen weiterer Bürger an.

Mitarbeit: Tatiana Sutkovaya