Frankreich: Truppenabzug aus Syrien

Auch die britischen Truppen sollen abgezogen werden - Der Westen und die Heuchelei in der Syrien-Politik

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Frankreich zieht seine Truppen aus Syrien ab, auch Großbritannien soll es dem früheren Mandatspartner im Nahen Osten gleichtun. "Französische und britische Truppen, die die US-Streitkräfte in Syrien unterstützt haben, werden erwartungsgemäß zusammen mit den US-Soldaten abziehen, was einen kompletten Rückzug der westlichen Verbündeten bedeutet, die gegen den 'Islamischen Staat' gekämpft haben", zitiert das Wall Street Journal ungenannte US-Vertreter.

In Frankreich wurde die Nachricht gestern Abend offiziell vom Elysée-Palast verschickt. Um die Sicherheit des militärischen wie auch des zivilen Personals - z.B. Mitglieder von Hilfsorganisationen - im Nordosten Syriens zu garantieren, werde Frankreich in den "nächsten Stunden" Maßnahmen ergreifen, hieß es aus dem Präsidentenpalast in Paris nach einer dringlich angesetzten Beratung am Sonntagabend.

Kein Mittel gegen Erdogan?

In den sozialen Medien war der Abzug der französischen Soldaten gestern bereits vollzogen. Wie viele französische Soldaten genau im Nordosten Syriens aktiv waren, darüber war man in Paris nicht sehr redselig. Aus Twitter gepostete Fotos von Panzerfahrzeugen mit französischer Beflaggung machten vor Monaten eine größere Öffentlichkeit erst auf die Präsenz der Spezialtruppen in diesem Gebiet aufmerksam, das die türkische Militäroperation nun angreift. Dass französische Truppen im Südosten beim Kampf der SDF und der USA gegen die letzten Rückzugsorte des IS-Kalifats mitwirkten, wurde offener behandelt.

Die kurdischen YPG-Milizen waren von Frankreichs Präsident Macron zu Verbündeten erklärt worden. Im März letzten Jahres empfing er Vertreter der SDF im Elysée-Palast. Ziel war es, zwischen den Kurden und der Türkei zu vermitteln. Erdogan reagierte umgehend. "Wir brauchen keine Mediation. Seit wann will sich die Türkei mit einer terroristischen Organisation an einen Tisch setzen? Wie kommen Sie auf diese Idee?"

"Eine Pleite von Anfang an"

Der Abzug der französischen Truppen hat eine beträchtliche Fallhöhe. Das sei eine Pleite von Anfang an, wie man sie in der jüngsten Geschichte selten erlebt habe - ein Sturz die Treppe hinunter, man stolpert schon bei der ersten Stufe und kann den Sturz bis zum Treppenende nicht mehr auffangen, ist im bitteren Fazit eines bekannten Kommentators zu lesen. Sein Rat: Mehr Bescheidenheit auf der internationalen Ebene, "außer man will sich noch weiter lächerlich machen?"

Die Wut in Paris auf Erdogan ist groß. Macron erklärte gestern im Rahmen des Besuchs von Angela Merkel, dass man die diplomatischen Anstrengungen verstärken werde, um einen Stopp der türkischen Offensive zu erreichen. Diese verurteile man aufs "Entschiedenste", so die Erklärung aus dem Elysée-Palast.

Seither hat sich Entscheidendes getan. Die SDF hat eine Vereinbarung mit Damaskus getroffen, die syrischen Truppen bewegen sich Richtung Norden. Welche Auswirkungen dies auf die türkische Offensive haben wird, ist noch unklar. Klar ist jedoch, dass sich die USA haben sich dazu entschlossen haben, ihren Abzug aus Syrien zu beschleunigen.

Die französischen Truppen wie auch die britischen sind - wohl nicht nur, weil sie auf die US-Logistik angewiesen sind, sondern auch aus anderen Gründen - nicht willens, sich unter diesen Umständen auf eine Konfrontation mit der Türkei einzulassen.

Frankreichs Regierung hat es nicht wirklich darauf ankommen lassen. Erdogan hat mit seiner Drohung, im Falle falscher Signale aus der EU die Wege nach Europa für Flüchtlinge zu öffnen, eine Karte ausgespielt, auf die Frankreich wie Deutschland keine Antwort haben, die Erdogan beeindruckt hätte. Die "Säule der EU" hielt diesem Druck nicht stand.

EU: Heuchelei gegenüber den Kurden

Erneut zeigt sich die außenpolitische Schwäche der EU. Wie beim Konflikt über die Nuklearvereinbarung mit Iran gibt die europäische Position keinen Ausschlag, sie bewegt nichts. Sehr viel wichtiger ist das Verhalten der USA und Russlands, das zählt für Erdogan, wobei er sich letztlich auch von den USA nicht von seinen Expansionsplänen abbringen ließ. Die EU hat ihn noch von keiner Forderung abbringen können.

Offenbar wird die Schwäche der Europäer auch am Versprechen einer Unterstützung, für das nicht nur Macron den Kurden gegenüber im Wort steht. Man ließ sie mit den vielen Sympathiebekundungen auf höchster politischer Ebene im Glauben, dass ihr demokratisches Modell Rojava vom Westen unterstützt würde, um sie danach alleine zu lassen.

Das sei eine große Heuchelei gewesen, so Wassim Nasr, ein in Frankreich bekannter Syrien-Beobachter. Denn "kein westlicher Staat habe gewollt, dass die Kurden in Syrien einen eigenen revolutionären kommunistischen Staat haben, der sich in dieser Zone festsetzt".

Nun gibt es Äußerungen der Kurden, die sich dem Vorwurf, sie wollten einen eigenen Staat in Syrien errichten, klipp und klar widersprechen, es sei nur um einen regionalen Status mit mehr Unabhängigkeit gegangen. Auch darüber, inwiefern Rojava kommunistische Züge hat, könnte man diskutieren.

Aber das ist jetzt, da die SDF und die Zentralregierung in Damaskus in Verhandlungen stehen, müßig. Was bleibt ist die Frage, wie ernst Frankreich und Deutschland die Kurden der YPG und deren Ansprüche genommen haben?

Propaganda für mehr Humanität

Damit hängt auch zusammen, wie ernst die Protagonisten, die für die EU sprechen, die humanen Werte und friedlichen Ziele nehmen, die sie so hoch hängen, um sie dann aber nicht erfüllen zu können. Zum Thema "Baschar al-Assad" wurde von Macron, nachdem sich der syrische Präsident hartnäckig an der Spitze hielt, zwar eingeräumt, dass dieser ein politischer Akteur sei, auf dessen Absetzung man nicht mehr dränge, aber er betonte wie auch stets sein Außenminister Le Drian, dass Assad auch ein Kriegsverbrecher sei.

Mit dieser Haltung wurden Verhandlungen unmöglich gemacht. Es blieb bei den militärischen Lösungen. Verhandlungen hätten daran etwas ändern können, wenn sich die Europäer ernsthaft auf den Weg gemacht hätten, einen anderen Ansatz zur Führung in Damaskus zu finden. Sie haben ihr politisches Repertoire verengt, um auf hehre Werte zu verweisen, die ihnen dann aber wieder nicht so wichtig sind, wie die Abhängigkeit von Erdogan in der Flüchtlingsfrage ja vorführt.

Im Ergebnis stehen die europäischen Staaten jetzt mit ihren jahrelangen Versuchen, die syrische Führung "menschlicher" zu gestalten, also auszutauschen, da, wo sie niemals sein wollten. Sie werden über kurz oder lang mit der Regierung in Damaskus Verhandlungen aufnehmen müssen, weil ihnen dies die politische Lage nun aufzwingen wird. Angefangen bei der Frage, wie das weitere Schicksal der IS-Kämpfer aus europäischen Staaten, aus Frankreich und Deutschland, aussehen wird.

Heuchelei gegenüber der Öffentlichkeit

Diese Heuchelei - "mit Kriegsverbrechern und Folterern verhandeln wir nicht (aber mit al-Sisi schon), daher unterstützen wir die 'Opposition' (de facto islamistische, dschihadistische Milizen, die nichts auf Menschenrechte geben)" - wird mit dem Abzug der britischen Truppen offenbar. Man hatte zuletzt kaum mehr etwas vom Einsatz der britischen Special Forces gelesen, die nun im Fall eines kompletten Abzugs der US-Truppen früher als geplant abziehen sollen.

Dagegen hatte die Unterstützung der syrischen Opposition durch eine Öffentlichkeitsarbeit, die von der britischen Regierung mitfinanziert wurde, immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt - und für Verwunderung, da damit Kräfte unterstützt wurden, die eine repressive politische Ordnung zum Ziel hatten, die mit westlichen Werten nicht zu vereinbaren ist.

Wie weit dieser "Spagat" ausfiel, wird momentan sichtbar, da man Milizen im Dienste der türkischen Offensive in Nordsyrien als brutal und vollkommen inakzeptabel darstellt, die früher unter dem Rubrum "FSA" und "Rebellen" als Hoffnung für ein freies, neues Syrien unterstützt wurden - und zwar in sehr bissiger, dogmatischer Form. Wer Zweifel an dieser Position anmeldete, wurde schnell ins Lager der Assad-Anhänger gestellt. Wenn Erdogan davon spricht, dass man entweder auf seiner Seite ist oder Drohungen zu fürchten hat, so gab es das Muster auch bei der Berichterstattung zu Syrien.

Jetzt erfährt man, dass ein legendärer FSA-Rebellen-Held - und Innenminister der "syrischen Interimsregierung" mit Sitz in der Türkei -, nämlich Salam Idris, als Stabschef die islamistischen Milizen ("Nationale Armee") befehligt, die an der Seite der türkischen Artillerie die Kurden im Nordosten Syriens angreifen.

An wirklicher Demokratie hatte Idris nie ein Interesse, schreibt Alfred Hackensberger in der Welt.

Schon vor sechs Jahren plädierte er für einen starken, islamistischen Zentralstaat. Zudem verteidigte er vehement rassistische Vorurteile und Klischees über die Kurden und ihre Verbündeten.

Alfred Hackensberger