Türkei: Die AKP zerlegt sich selbst

Die Erdogan-Partei befindet sich in einem Auflösungsprozess

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Der ehemalige Ministerpräsident und Erdogan-Vertraute Ahmet Davutoglu hat die AKP verlassen und kam damit einem bevorstehenden Parteiausschluss zuvor. Er ist der prominenteste, aber bei weitem nicht der einzige Politiker, der sich von der AKP abwendet. Die Kritik an Erdogans Innen- und Außenpolitik wird immer lauter. Ist das der Anfang vom Ende der Ära Erdogan?

Auf einer Pressekonferenz in Ankara sagte Davutoglu, es sei sowohl eine "historische Verantwortung als auch eine Notwendigkeit", eine "neue politische Bewegung aufzubauen und einen neuen Weg einzuschlagen". Er lade jeden zur Zusammenarbeit ein, "dessen Herz für die Zukunft dieses Landes schlägt und der Verantwortung verspürt"".

Mit der Neugründung einer konservativen Partei möchte er religiös-konservative Wähler, die mit der Linie Erdogans unzufrieden sind, an sich binden. Gemeinsam mit Davutoglu trat der ehemalige Vorsitzende des AKP-Provinzverbands von Istanbul und die ehemaligen Abgeordneten Selçuk Özdag, Ayhan Sefer Üstün und Abdullah Başcı aus der Partei aus. Sie alle kamen damit einem Parteiausschluss zuvor.

Bereits im Juli trat der ehemalige Vize-Premierminister Ali Babacan, gefolgt von dem ehemaligen Justizminister Sadullah Ergin aus der AKP aus. Der ehemalige türkische Staatspräsident Abdullah Gül kündigte schon vor längerer Zeit an, ebenfalls eine neue Partei gründen zu wollen. Ob es sich dabei um eine gemeinsame Partei mit Davutoglu handelt, ist allerdings noch unklar.

Auch gut gemeinte Kritik ist "Verrat und Feindseligkeit"?

Davutoglus Kritik an der Partei ist weitreichend: Mit dem Weg, den die AKP eingeschlagen hätte, entferne sie sich von der Gründungsphilosophie. Sie "könne der Nation keinen Nutzen und keine Lösung bringen", sagte der ehemalige Ministerpräsident und bezog sich dabei auf die Beendigung des Dialogprozesses zur kurdischen Frage, wo sich Erdogan bewusst über Davutoglu hinweggesetzt hatte. Zuletzt kritisierte er die Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul im März dieses Jahres, wo der kemalistische CHP-Kandidat Ekrem Imamoglu die Wahl gewann.

Die AKP-Führung sehe "jede gut gemeinte Kritik und Empfehlung als Verrat und Feindseligkeit", deshalb gebe es keine Möglichkeit mehr, die "Grundsätze und Ziele, für die wir in unserem politischen Leben eintreten, in der AK-Partei umzusetzen", begründete Davutoglu seinen Austritt auf der Pressekonferenz vergangenen Freitag.

Erdem Gül, der neue CHP-Bürgermeister der Prinzeninseln, berichtet in einem Interview mit der Zeit, die AKP habe ihren Zenit überschritten. Auf den Prinzeninseln leben viele Menschen mit jüdischen, armenischen oder griechischen Wurzeln. Inzwischen leben aber auch Kurden oder Tscherkessen auf der Insel, berichtet Gül. Die Menschen sähen diese gesellschaftliche Pluralität als Gewinn im Gegensatz zur Politik der Assimilation von Erdogan.

Die Bevölkerung in der Türkei wünsche sich statt Polarisierung, Wachstum, Stabilität und Demokratie. Mit den Kommunalwahlen, wo die AKP in vielen Städten die Wahl verloren habe, sei die Hoffnung auf Wandel zurückgekommen. Nun versuche die AKP, diese Hoffnungen wieder zu zerstören, wie man an der Absetzung der drei HDP-Bürgermeister in der Osttürkei sehe. Dies sei ein Eingriff gegen den Willen des Volkes, erläutert Gül.

Denn wenn wirklich etwas gegen die Kandidaten vorgelegen hätte, dann wären sie von der nationalen Wahlkommission nicht zugelassen worden. Die Absetzung der kurdischen Bürgermeister hat auch bei den AKP-Wählern im restlichen Land zu Unmut geführt.

Gerichte erinnern sich an Unabhängigkeit der Justiz

Erdem Gül war bis letztes Jahr im Vorstand der regimekritischen Zeitung Cumhuriyet. 2015 berichtete er mit zusammen mit dem ehemaligen Chefredakteur Can Dündar über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an den IS in Syrien. Gül und Dündar wurden wegen ihrer Enthüllungen verhaftet, Dündar floh nach seiner Haftentlassung daraufhin nach Deutschland. Beide wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, der Oberste Gerichtshof hob jedoch letztes Jahr das Urteil gegen Gül in letzter Instanz auf.

Ebenfalls durch ein Berufungsgericht freigelassen wurden letzte Woche fünf Cumhuriyet-Journalisten darunter der bekannte Karikaturist Musa Kart. Auch ihnen wurde "Unterstützung von Terrorgruppen" vorgeworfen. Zehntausende Menschen befinden sich wegen diesem vagen Vorwurf in türkischen Gefängnissen - ohne Beweise. Nun scheinen sich aber die Gerichte vorsichtig ihrer Unabhängigkeit zu erinnern, denn auch das Hauptverfahren gegen Erdogans Konkurrent der HDP, Selahattin Demirtas, endete mit Freispruch.

Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara legte zwar Berufung gegen den Freispruch ein, aber das Berufungsgericht in Ankara lehnte dies ab. Nun hofft Demirtas, dass er bald freikommt (Türkei: Tauziehen um Demirtas). Sein Anwalt beantragte die Anrechnung seiner Haftzeit auf die Haftstrafe von vier Jahren und acht Monaten aus einem anderen Verfahren. Ein Umdenken der Justiz muss aber unter Vorbehalt betrachtet werden, denn noch immer werden fast täglich Menschen wegen "Terrorpropaganda" verhaftet.

Erdogan ist die Kritik aus den Reihen seiner Partei schon länger ein Dorn im Auge: "Die Arbeit einiger Leute aus dem Inneren (der Partei) ist schwer zu schlucken", sagte er bei einem Parteitreffen Ende April diesen Jahres. "Wir werden sie zur Rechenschaft ziehen, wenn die Zeit gekommen ist", drohte er. Je mehr Kritik an ihm und seinem autokratischen Führungsstil laut wird, desto hysterischer ist sein Agieren gegen Oppositionelle, egal welcher politischer Ausrichtung.

Feindbild Nummer Eins und Zwei

Feindbild Nummer Eins sind die oppositionellen Kurden und mit ihnen die linke Oppositionspartei HDP. Es wird befürchtet, dass die türkische Regierung ein Verbot der HDP vorbereitet. Zurzeit läuft eine Kampagne gegen die HDP, indem die AKP jene Familien, die nach ihren verschwundenen Kindern suchen, zum HDP-Büro in Diyarbakir schickt mit dem Verweis, die HDP sei schuld am Verschwinden der Kinder.

Pech nur, dass sich ein vermeintlich verschwundener Sohn, der öffentlich als Beispiel für die Verschleppung zur Guerilla durch die HDP genannt wurde, sich kurz darauf selbst meldete und erzählte, er sei nicht in die Berge gebracht worden, sondern er habe seine Familie verlassen, weil er zwangsverheiratet werden sollte.

Feindbild Nummer Zwei ist Erdogans einstiger Weggefährte Fethullah Gülen und dessen Anhängerschaft, die er nach wie vor in den staatlichen Institutionen vermutet: Ende letzter Woche wurden über 200 Soldaten in der Türkei und im türkischen Teil Zyperns wegen dem Vorwurf der Unterstützung der Gülen-Bewegung verhaftet Erdogan bezichtigt den im amerikanischen Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen, Drahtzieher des Putsches 2016 zu sein. Glaubhafte Beweise dafür gibt es bis heute nicht.