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15 Jahre Netzpolitik.org "Man darf nicht gleich den Untergang der Demokratie verkünden"

Das Blog Netzpolitik.org feiert seinen 15. Geburtstag. Berühmt wurde es, als die Bundesanwaltschaft wegen Landesverrats gegen die Journalisten ermittelte. Gründer Markus Beckedahl erklärt, warum das für die Redaktion ein Glücksfall war.
15 Jahre Berichterstattung, eine Staatsaffäre inklusive: Das Team von Netzpolitik.org

15 Jahre Berichterstattung, eine Staatsaffäre inklusive: Das Team von Netzpolitik.org

Foto: Jason Krüger
Über Netzpolitik.org

Netzpolitik.org ist eines der bekanntesten deutschsprachigen Blogs. Von Markus Beckedahl gegründet, ist die Plattform stetig gewachsen und wird inzwischen von einer fest angestellten Redaktion bestückt. Sie widmet sich Themen wie Überwachung und Datenschutz oder analysiert netzpolitische Gesetzesvorhaben. Im Februar 2015 veröffentlichte das Team vertrauliche Dokumente des Verfassungsschutzes, weshalb ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Landesverrat gegen einzelne Journalisten eingeleitet wurde. Nach heftigen öffentlichen Protesten wurde das Verfahren im August 2015 eingestellt.

SPIEGEL: Herr Beckedahl, bei unserem letzten Interview vor vier Jahren stand Ihr Blog Netzpolitik.org  im Zentrum einer Staatsaffäre: Nach der Veröffentlichung vertraulicher Verfassungsschutzdokumente wurde gegen Sie wegen Landesverrats ermittelt, das Verfahren wurde eingestellt. Wie hat sich das seitdem auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Beckedahl: Das war ein einschneidendes Erlebnis in der Geschichte von Netzpolitik.org. Einerseits haben wir dadurch erfahren, dass wir offenbar sehr ernst genommen werden. Andererseits wurden wir damit konfrontiert, dass man theoretisch auch in Deutschland für unsere Arbeit mit Gefängnis bedroht wird. Da war es toll, dass wir eine riesige Solidarität erfahren haben, von der wir bis heute profitieren, auch finanziell.

SPIEGEL: Inwiefern?

Beckedahl: Wir haben damals knapp 100.000 Euro an zusätzlichen Spenden bekommen, die wir dann letztlich ja doch nicht in die Verteidigung stecken mussten, sondern in den Ausbau der Redaktion investieren konnten. Inklusive Werkstudenten sind wir momentan 16 Personen auf 10,8 Stellen.

SPIEGEL: Es gab immer mal wieder Diskussionen darüber, ob es einen Unterschied zwischen Bloggern und Journalisten gibt. Wie versteht sich die Redaktion heute selbst?

Beckedahl: Ursprünglich wollte ich gar kein journalistisches Medium gründen, ich bin da mit der Zeit reingerutscht. Wir sind als Blogger gestartet und mit der Zeit journalistischer geworden. Während viele Journalisten jetzt anfangen, sich die technische Expertise zu holen, kommen wir umgekehrt von der technischen Seite und haben uns den Journalismus angeeignet.

Zur Person
Foto: Darja Preuss

Markus Beckedahl, Jahrgang 1976, wird oft als Aktivist bezeichnet, versteht sich aber selbst inzwischen als Journalist. Er hat die derzeitige Version des Blogs netzpolitik.org im Jahr 2004 gegründet und ist seitdem Chefredakteur.

SPIEGEL: Was für eine Plattform sollte es denn ursprünglich werden?

Beckedahl: Ein Ort, an dem alle relevanten Informationen rund um netzpolitische Fragen aggregiert werden. Ich habe damit einfach mal angefangen - niemals hätte ich mir träumen lassen, dass daraus mal ein journalistisches Medium mit überregionaler Reichweite wird, das fast vollständig von der Community finanziert wird.

SPIEGEL: Wie viel Spenden nehmen Sie pro Jahr ungefähr ein?

Beckedahl: Immer mehr. Letztes Jahr hatten wir etwas über 500.000 Euro, dieses Jahr kalkulieren wir mit 600.000 Euro.

SPIEGEL: Netzpolitik gilt bei vielen immer noch als Nischenthema. Haben Sie mit diesem Namen eine spitze Zielgruppe?

Beckedahl: Viele unserer Themen sind für viele Menschen relevant und werden auch entsprechend oft gelesen. Andere kommen erst drei oder fünf Jahre später in der gesellschaftlichen Debatte an. Wir verstehen uns auch als Frühwarnsystem, das Aufmerksamkeit bei Experten und Journalisten schafft.

SPIEGEL: Unserer Erfahrung nach treffen netzpolitische Themen oft erst auf breites öffentliches Interesse, wenn es eigentlich schon zu spät ist und sich kaum noch etwas ändern lässt. Die EU-Urheberrechtsreform beispielsweise hat erst ganz zum Schluss massenhaft junge Leute auf die Straße getrieben, obwohl sie jahrelang verhandelt wurde.

Beckedahl: Alles, was auf europäischer Ebene passiert, bekommt ohnehin weniger Aufmerksamkeit. Aber auch viele Medien steigen erst ein, wenn es eigentlich zu spät ist, also wenn es nur noch um die letzte Abstimmung geht. Allerdings freue ich mich jedes Mal, wenn es überhaupt ein Debattenzeitfenster für ein bestimmtes Thema gibt, das man nutzen kann.

SPIEGEL: Die breite Masse erreicht manches Thema ohnehin nicht mehr über klassische Medien, sondern eher über YouTube. Warum mischen Sie da nicht viel mehr mit?

Beckedahl: Videos sind eine Menge Arbeit. Und wir haben festgestellt, dass wir mit unserem kleinen Team in der Textform viel mehr Wissen zusammenbringen und verarbeiten können.

SPIEGEL: Verlieren Sie so nicht auf Dauer die jungen Leser?

Beckedahl: Laut Leserumfrage ist unsere Hauptzielgruppe immer noch zwischen 25 und 40 Jahre alt. Natürlich werden einige älter, aber das finde ich auch ganz gut. Denn die einflussreichen Kräfte in unserer Gesellschaft sind oftmals über 50. Würden die uns mehr lesen, hätten wir vielleicht auch eine bessere Netzpolitik in Deutschland.

SPIEGEL: Der nach Ihren Angaben bislang erfolgreichste Text auf Ihrem Blog war ein Bericht über das Bayerische Polizeigesetz mit mehr als 1,3 Millionen Abrufen. Wie erklären Sie sich das?

Beckedahl: Überwachungsgesetze klappen bei uns eigentlich immer. Man darf aber nicht gleich den Untergang der Demokratie verkünden. Unsere Lesenden sollen nicht das Gefühl bekommen, dass sie in einem totalen Polizeistaat leben und niemandem mehr vertrauen können. Wir leben - im Vergleich zu anderen Staaten - hier immer noch in einem Rechtsstaat. Das wollen wir bewahren und für mehr Freiheiten kämpfen.

SPIEGEL: Überwiegen die aus Ihrer Sicht negativen netzpolitischen Entwicklungen gegenüber den positiven, die Sie vermelden?

Beckedahl: Es ist uns nicht gelungen, viele Überwachungsgesetze zu verhindern. In unseren 15 Jahren ist die CDU/CSU seit 2005 in fast jeder Regierung dabei gewesen und hat ein Überwachungsgesetz nach dem anderen auf den Weg gebracht. Manchmal hat man halt auch keine Chance gegen eine Regierung, die teilweise ja auch ziemlich große Mehrheiten hatte.

SPIEGEL: Das klingt ja nicht gerade journalistisch. Verstehen Sie sich eher als eine Redaktion aus Aktivisten?

Beckedahl: Wir sagen ganz klar: Wir sind nicht neutral. Wir berichten aus der Perspektive von digitalen Grundrechten und aus Sicht der Demokratie. Das sollte im Journalismus eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber häufig nicht - weil es die Lehrmeinung gibt, man dürfe sich mit keiner Sache gemein machen.

SPIEGEL: Werden Sie für diese Einstellung von Journalisten kritisiert?

Beckedahl: Es ist doch entlarvend, wenn uns beispielsweise von der FAZ vorgeworfen wird, wir wären die Aktivisten und sie wären die Journalisten, obwohl die FAZ bei fast jedem unserer Themen im vergleichbaren Maße eine Meinung vertritt - nur eben die Gegenmeinung. Wir arbeiten nach journalistischen Standards und haben einen Anspruch, über digitale Grundrechte zu berichten.

SPIEGEL: Politik und Wirtschaft machen in der Netzpolitik viel unter sich aus. Wie gut klappt es, die Gesellschaft in netzpolitische Debatten einzubringen?

Beckedahl: Netzpolitik wird in Deutschland oft hauptsächlich als Industriepolitik gesehen. Dabei ist Netzpolitik in erster Linie Gesellschaftspolitik.

SPIEGEL: Weiß das die Gesellschaft denn auch?

Beckedahl: Die Umweltbewegung war auch einmal relativ klein und hat inzwischen riesige Organisationen hervorgebracht. Das kann auch in der digitalen Zivilgesellschaft passieren. Der Chaos Computer Club versammelt allein auf seinen Konferenzen rund 15.000 Menschen, Wikimedia Deutschland hat mittlerweile 70.000 Fördermitglieder. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass auch sie von Netzpolitik betroffen sind. Genau die wollen wir erreichen, sensibilisieren und im Idealfall auch mobilisieren, sich in diese Debatten einzumischen.

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