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Ein Verkäufer von Straßenzeitungen erzählt "Obdachlose werden weggejagt wie Tiere"

Er hat zwei Ausbildungen absolviert und wurde trotzdem arbeitslos und obdachlos. Der Verkäufer einer Straßenzeitung berichtet von seinem größten Wunsch.
Obdachloser in Berlin (Archivbild)

Obdachloser in Berlin (Archivbild)

Foto: Paul Zinken/ picture alliance / Paul Zinken/d

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist in vielen Berufen jede Menge Platz. In der Serie "Das anonyme Jobprotokoll" erzählen Menschen ganz subjektiv, was ihren Job prägt - ob Tierärztin, Staatsanwalt oder Betreuer im Jobcenter.

"Zu Weihnachten habe ich einen großen Wunsch: Ich möchte, dass niemand mehr auf der Straße schlafen muss. Dazu muss die Politik mehr tun. Auf der Straße zu schlafen ist scheiße, vor allem im Winter, wenn es kalt ist.

Angst hatte ich nie, aber ich kenne auch einige, die schon angegriffen wurden. Ich habe zum Glück nur ein paar Monate auf der Straße verbracht und mittlerweile ein Dach über dem Kopf, aber ich habe viele Bekannte, die noch draußen schlafen.

Die Obdachlosen werden von Bahnhöfen, unter Brücken oder aus Kaufhauseingängen weggejagt wie Tiere. Daran muss sich dringend etwas ändern. Noch ist es nicht allzu kalt, aber bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sollte jeder Mensch die Möglichkeit haben, sich im Warmen und Trockenen aufzuhalten.

In diesem Jahr sind bereits vier andere Obdachlose auf der Straße erfroren. Zuletzt traf es ein polnisches Pärchen. Beide waren alkoholabhängig und schliefen auf dem Boden ein, ohne sich zuzudecken. Die Frau ist am nächsten Tag nicht wieder aufgewacht.

Feste Arbeitszeiten am Stammplatz

Ich habe zwei Ausbildungen gemacht, ich bin Elektromonteur und Facharbeiter für Rinderzucht. In diesem Beruf fand ich in der Großstadt keine Anstellung. Ich arbeitete zunächst zwei Jahre bei einer Spedition, aber den Stress dort konnte ich nicht aushalten. Ich bekam Arbeitslosengeld, dann Grundsicherung und landete schließlich auf der Straße. Aber ich wollte nicht nur rumsitzen. Über einen Freund erfuhr ich von der Möglichkeit, die Straßenzeitung zu verkaufen.

Ich bin 60 Jahre alt. Seit 20 Jahren verkaufe ich jeden Morgen von 6:30 Uhr bis 9 Uhr eine Straßenzeitung in einer deutschen Großstadt. Seit mehreren Jahren schon ist der Eingang eines großen Bahnhofes mein Stammplatz. In der Gegend um den Bahnhof herum gibt es viele Firmen. Die Menschen eilen in Anzügen an mir vorbei.

Aber ich habe auch Stammkundschaft. Die kauft jeden Monat bei mir eine Zeitung, gibt mir auch manchmal etwas zu Essen und wir klönen ein bisschen, über die Arbeit und das Wetter. Das genieße ich sehr. Ich habe gern Kontakt zu Menschen und alle sind immer freundlich zu mir, so wie ich auch freundlich zu ihnen bin. Pöbeleien habe ich bisher beim Zeitungsverkauf noch nicht erlebt.

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Das anonyme Jobprotokoll: So sieht der Alltag wirklich aus

Für die Verkäufer von Straßenzeitungen gibt es einen Verhaltenskodex. Alkohol und Drogen sind während des Verkaufs tabu. Verkäufer können sich auch einen Stammplatz sichern, so wie ich es vor ein paar Jahren gemacht habe. Eine gute Entscheidung. Viele meiner Kunden kennen mich bereits und ich bekomme ab und zu auch ein bisschen Extrageld, Lebensmittel oder andere kleine Spenden.

Gegen neun Uhr fahre ich dann nach Hause. Ich wohne in einem Wohnheim für bedürftige Männer. Hier zahle ich etwas mehr als 200 Euro für die Miete für ein Zimmer mit Koch- und Duschmöglichkeit. Groß ist es nicht, aber ich bin zufrieden.

Jeden Monat verkaufe ich ungefähr 100 Zeitungen. Ich kaufe meine Zeitungen vom Verlag zum Preis von 1,10 Euro und verkaufe sie an die Kunden auf der Straße für 2,20 Euro. Die 1,10 Euro, die übrig bleiben, darf ich behalten.

Nach dem Mittagessen fahre ich dann zu meinem zweiten Job: Seit drei Jahren schenke ich im Vertriebsraum der Zeitung, die ich verkaufe, Kaffee aus und helfe bei der Essens- und Kleiderausgabe. Die Einrichtung arbeitet mit der Tafel zusammen. Auch ich habe einen Ausweis und bekomme regelmäßig Lebensmittel.

700 Euro Monatseinkommen

Die Arbeit macht mir viel Spaß. Insgesamt verdiene ich etwa 700 Euro im Monat. Nach Abzug der Fixkosten, die im Wohnheim zum Glück nicht so hoch sind, bleiben mir etwa 500 Euro zum Leben. Mit Hartz IV hätte ich fast genauso viel Geld wie jetzt mit zwei Jobs, aber das ist für mich keine Option.

Ich bin sehr gern mit Menschen zusammen. Viele Obdachlose, die in die Einrichtung kommen, kenne ich schon. Und auch beim Zeitungsverkauf auf der Straße treffe ich immer wieder bekannte Gesichter und kann mich unterhalten. Ein tolles Gefühl.

Auch mir hat die Einrichtung in den letzten 20 Jahren viel geholfen. Zu den schönsten Momenten in meinem Leben zählt sicher der Gottesdienst, den ich mit über 4000 Bedürftigen im Petersdom besuchen durfte. Gemeinsam haben wir vier Tage in Rom verbracht, das war unglaublich. Als ich dann auch noch ausgewählt wurde, um dem Papst persönlich die Hand zu geben, war ich sehr aufgeregt und überglücklich. Der Papst beugte sich zu mir und sagte auf Deutsch: 'Ich bete für euch.' Das war Gänsehaut pur.

Die Einrichtung hat es mir auch ermöglicht, nach Jahren wieder Kontakt zu meiner Schwester aufzunehmen. Hier gibt es einen Computer, den ich benutzen kann. Ich schrieb ihr bei Facebook und sie antwortete sofort. Auch sie hatte schon nach mir gesucht. Mittlerweile besuchen wir uns regelmäßig und feiern auch unsere Geburtstage gemeinsam.

Weihnachten verbrachte ich in den vergangen Jahren im Kreise von anderen Wohnungslosen und Bedürftigen bei der Weihnachtsfeier, die ein Fernsehkoch für uns ausrichtet. Es gibt ein Drei-Gänge-Menü und sogar Geschenke. Am ersten Weihnachtstag gibt es dann immer eine Feier in meinem Wohnheim.

Meinen Freunden, die auf der Straße leben, schenke ich zu Weihnachten eine warme Decke, Süßigkeiten oder Kaffee. Alkohol muss ja nicht sein. Zum Glück ist die Spendenbereitschaft der Menschen sehr groß, aber es fehlt an Schlafsäcken, die auch bei sehr niedrigen Temperaturen warmhalten."