Die Amish People im US-Bundesstaat Pennsylvania kennen eine Tradition mit dem lustigen Namen Rumspringa. Der Begriff ist eine Ableitung des deutschen Verbes herumspringen und bedeutet, dass Jugendliche im Alter zwischen etwa 14 und 21 Jahren nicht an die strengen Regeln der tiefreligiösen Glaubensgemeinschaft gebunden sind. Sie dürfen in dieser Zeit Kontakte zu weltlichen Altersgenossen pflegen, moderne Kleidung und Frisuren tragen, Popmusik hören, das Internet benutzen, Auto fahren, sogar Alkohol und Drogen ausprobieren, ohne deshalb dauerhaft aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden. 

Dahinter steckt die Vorstellung, dass nur jemand, der die Verführungen und Gefahren des Lasters aus eigener Anschauung kennt, die geistige Festigkeit besitzt, sich aus freien Stücken für ein frommes Leben voller Entbehrungen zu entscheiden. Etwa 85 Prozent der jungen Amischen kehren nach dem Rumspringa in die Kirche zurück, kleiden sich fortan wie im 19. Jahrhundert, fahren mit Pferdekutschen herum und verzichten auf Elektrizität und andere moderne Annehmlichkeiten.

"Als Kind definiert man sich über seine Eltern. Als Erwachsener definiert man sich aus sich selbst heraus. Den Prozess, der dazwischenliegt, nennt man Pubertät", erklärt Jakob Hein, Jugendpsychiater und Schriftsteller aus Berlin. In dieser kurzen Lebensspanne muss es also gelingen, ein eigenes Wertesystem aufzubauen und eine autonome Identität zu entwickeln.

Laut bei uns gängigem Teenagerklischee geschieht das typischerweise über die Abgrenzung von Elternhaus und Schule. Bilderbuchpubertierende lehnen frech und lautstark alles ab, was wohlmeinende Autoritäten an sie herantragen, sind launisch, nervig, unbequem, hören grässliche Musik und tragen bescheuerte Klamotten.

Das alles gesteht man ihnen eher zu als anderen Altersgruppen, denn: Pubertierende haben die Lizenz zum Ausflippen. Aber haben sie auch die Pflicht dazu?

Der Glaube an die reinigende Kraft der Pubertät ist in der Menschheitsgeschichte noch jung. In seinem Buch Teenage. Die Erfindung der Jugend beschreibt der britische Musikjournalist Jon Savage eine faszinierende Kulturgeschichte der Jugendzeit, deren europäische Ursprünge sich in der Epoche der Romantik am Ende des 18. Jahrhunderts verorten lassen. Auch Soziologinnen und Soziologen vertreten die Ansicht, dass die Pubertät, wie wir sie heute verstehen, erst durch die Komplexität moderner Gesellschaften zur Notwendigkeit wurde. Der Grundgedanke: In Zeiten und Kulturen, in denen der Lebensweg des Einzelnen fest vorgezeichnet ist, können Kinder unterbrechungsfrei in den Erwachsenenstatus wechseln. Erst die verwirrenden Wahlmöglichkeiten pluralistischer Lebensentwürfe erfordern das unbedingte Durchleben einer heftigen Sturm-und-Drang-Periode, um sich danach – wie bei den Amish People – im Idealfall als verantwortungsvolles Mitglied in eine bestehende Gemeinschaft einfügen zu können.

Doch immer häufiger fühlen sich Erziehungsberechtigte verunsichert: Der erwartete Orkan bleibt aus. Statt wütendem Türenknallen und ohrenbetäubendem Lärm dringt aus den Kinderzimmern nur gespenstische Stille. "Mein 16-jähriger Sohn macht mir manchmal Angst", gestand ein Bekannter neulich. "Er ist einfach zu angepasst, total unauffällig. Wahrscheinlich sollte ich mich freuen, dass er so wenig Ärger macht, aber manchmal frage ich mich: Wenn er jetzt nicht durchdreht, wie soll er dann später mal zurechtkommen?"

Daniel Schneider leitet das Pop- und Subkulturarchiv der Berliner Vereins Archiv der Jugendkulturen, einer weltweit einzigartigen Organisation, die historische Artefakte jugendlichen Aufbegehrens sorgfältig katalogisiert und verwaltet. Den Vorwurf, dass Pubertierende heute nicht mehr vorschriftsmäßig rebellieren würden, hat Schneider schon oft gehört.

"Jugendkulturen funktionieren heute anders als noch vor 50 oder 20 Jahren", erklärt er. "Es sind vor allem Medienkulturen. Spezielle Treffpunkte sind durch das Internet überflüssig geworden. Es spielt keine Rolle mehr, sich beispielsweise mit einem bestimmten Musikstil besonders gut auszukennen. Alles ist für jeden frei verfügbar."

Hinzu kommt: Die Punks und Raver von früher sind die heutige Elterngeneration. Kämpfe um Haar- oder Rocklängen werden daher längst nicht mehr mit derselben Vehemenz ausgetragen. Väter und Mütter wollen verständnisvolle Kumpels für den Nachwuchs sein – wir waren ja schließlich auch mal jung!

Statt Mühe darauf zu verwenden, sich nach außen hin sichtbar abzugrenzen und sich Wissen über obskure Nischenphänomene anzueignen, müssen Jugendliche heute viel Zeit investieren, um mit den neuesten Entwicklungen Schritt zu halten. Reichte es früher noch aus, einmal in der Woche die Bravo zu lesen, um den jugendkulturellen Mainstream zu kennen und sich dann im Zweifel in eine Subkultur abzusetzen, kostet es heute ungleich mehr Anstrengung, überhaupt auf dem neuesten Stand zu sein. Der Druck, nicht den Anschluss an die immer neuen Schnörkel des Zeitgeschmacks zu verlieren, hat den Wunsch, irgendwie anders zu sein, weitgehend ausgeblendet. Mainstream ist das neue Cool, und das Entsetzen der einst ach so unangepassten Eltern über die für sie technisch und lebensweltlich oft nicht nachvollziehbare Mediennutzung gibt es gratis mit dazu: "Leg doch mal das Handy weg" ist das neue "Zieh dir mal was Anständiges an".

Mainstream zu sein, bedeutet heute auch, ein Riesenpaket Scheiße übergestülpt zu bekommen.
Jakob Hein, Jugendpsychiater

Was viele Eltern dabei gar nicht wissen: wie problematisch die ihnen verborgene Welt der Kinder tatsächlich ist. "Mainstream zu sein, bedeutet heute auch, ein Riesenpaket Scheiße übergestülpt zu bekommen", sagt der Jugendpsychiater Jakob Hein. Er sei von den konservativen, geradezu "mittelalterlichen" Vorstellungen seiner jungen Patientinnen und Patienten häufig überrascht. Heteropornografie, großmäulige Macho-Rapper und überschminkte YouTube-Tussis bildeten den digitalen Bedeutungsrahmen, innerhalb dessen die Jugendlichen sich ihre Vorstellungen von sich selbst und der Welt notgedrungen zusammenflicken müssten.

Aber heißt das, es gibt nur noch angepasste Jugendliche? Daniel Schneider vom Archiv der Jugendkulturen findet, dass man das nicht verallgemeinern sollte. Es gebe durchaus noch Jugendliche, die Dinge hinterfragen und sich zum Beispiel für bewussten Konsum oder gegen Rassismus und Sexismus engagieren würden. Aber auch diese Bewegungen seien vergleichsweise unauffällig, keine medienwirksamen Aufreger, wie es einst die Punkfrisuren in den bundesdeutschen Fußgängerzonen waren.