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Migrationsdebatte bei EU-Gipfel In Merkels Sackgasse

Es kommen weniger Migranten nach Europa, doch der Ärger in der EU bleibt: Kanzlerin Angela Merkel hat beim EU-Gipfel erneut auf eine faire Verteilung gepocht. Doch sie gerät zunehmend in die Defensive.
Kanzlerin Angela Merkel

Kanzlerin Angela Merkel

Foto: STEPHANIE LECOCQ/EPA-EFE/REX/Shutterstock

Solidarität ist derzeit das Zauberwort in der EU-Debatte über Flüchtlinge und Migranten. Das Problem: Jeder interpretiert den Begriff anders, und das wurde beim EU-Gipfel erneut deutlich.

Die Hauptdarsteller: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, die Migrationsfeinde in Osteuropa und Italien, mittendrin: die deutsche Kanzlerin.

Vor zwei Jahren hat die EU gegen den Widerstand einiger östlicher Mitglieder beschlossen, Flüchtlinge per Quote auf die Staaten zu verteilen. Aus der Verteilung wurde nichts - doch an den Folgen des Beschlusses laboriert die EU bis heute.

Inzwischen gebe es immer mehr Bewusstsein dafür, "dass die verpflichtenden Quoten nicht kommen werden", sagte Kurz, dessen Land derzeit den rotierenden Ratsvorsitz in der EU innehat, am Donnerstag zum Start des Gipfels. Er will jetzt ganz von der Verteilung wegkommen - und schlug vor, "dass wir in Richtung verpflichtende Solidarität gehen. Jeder soll einen Beitrag leisten, wo er kann und wo es logisch ist", sagte Kurz.

Kanzlerin kanzelt Kanzler ab

Davon aber hält Merkel gar nichts. Das Konzept höre sich "erstmal als Überschrift gut an", erklärte die Kanzlerin nach dem Gipfel. Es sei aber zu befürchten, dass dann alle EU-Staaten lieber Geld zahlen als Menschen aufzunehmen. Die Hauptankunftsländer stünden in Krisensituationen dann erneut alleine da. Merkels Urteil über die Initiative von Österreichs Kanzler: "Ich glaube, dass wir es uns damit noch ein bisschen zu einfach machen."

Sebastian Kurz

Sebastian Kurz

Foto: EMMANUEL DUNAND/ AFP

Allerdings haben auch Merkels Vorschläge die EU bisher wenig vorangebracht. Beim EU-Gipfel im Juni hatte sie die Einigung über Auffanglager in Nordafrika und sogenannte kontrollierte Zentren innerhalb der EU in der Heimat als "europäische Lösung" präsentiert, um den Dauerstreit mit der CSU und Horst Seehofer zu beenden.

Doch dreieinhalb Monate später muss man festhalten: Merkels europäische Lösung ist kein Stück vorangekommen. Zum einen hat sich bislang kein EU-Land bereit erklärt, sogenannte kontrollierte Zentren einzurichten. Auch die Gespräche mit nordafrikanischen Staaten verlaufen mehr als schleppend. Bislang haben sich weder Ägypten noch Libyen bereit erklärt, sogenannte Ausschiffungsplattformen zu beherbergen.

Merkel selbst, das muss man wissen, gilt nicht als Anhängerin dieser Zentren. Sie verweist etwa auf die Kritik, die auch das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR an der Idee übt. Dennoch nahm sie die Gipfeleinigung mit diesem Inhalt im Juni dankbar an, um ihre Koalitionskrise in Berlin zu beenden.

Dröhnendes Schweigen aus Osteuropa

Und die Quote? Das Gipfel-Kommuniqué vom Donnerstag lässt nicht erkennen, dass die Verteilungsfrage noch Priorität genießt. Die Reform der Dublin-Regeln - wonach der Staat, auf dessen Boden ein Migrant zuerst ankommt, für dessen Asylverfahren zuständig ist - bleibt zwar auf der Agenda: Der Europäische Rat ermutige die Präsidentschaft, die Arbeit an der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems fortzuführen, heißt es. Ein Abschluss solle "so schnell wie möglich" erreicht werden.

Doch ob das gelingen kann, ist fraglich. Von den Osteuropäern etwa, meint ein westeuropäischer EU-Diplomat, sei in Sachen Solidarität nur "dröhnendes Schweigen" zu hören. Der größte Bremser in Sachen Migration aber ist inzwischen Italien. Die populistische Regierung aus Lega und 5-Sterne-Bewegung blockiere derzeit alles, heißt es in Brüssel.

So hatte die Kommission kürzlich angeregt, die Dublin-Reform aufzuspalten, um wenigstens die bereits beschlossenen Teile umzusetzen. Rom aber pocht nach Angaben von Diplomaten auf eine Paketlösung, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Und dazu gehört allen voran die Forderung, dass Asylbewerber nicht mehr in dem EU-Land registriert werden, in dem sie zuerst ankommen. Stattdessen will Italien die Menschen am liebsten direkt in andere Staaten durchreichen.

Was wird aus den "kontrollierten Zentren"?

Auch bei den "kontrollierten Zentren" herrscht Stillstand. Ursprünglich hätte der Rat der Innenminister Mitte Oktober über den Start eines Pilotprojekts entscheiden sollen. Doch daraus wurde nichts - denn Rom will nur mitmachen, wenn auch Frankreich auf seinem Gebiet solche Einrichtungen aufbaut, heißt es aus EU-Kreisen.

Flüchtlinge bei der Ankunft in Lampedusa, Italien

Flüchtlinge bei der Ankunft in Lampedusa, Italien

Foto: Elio Desiderio/ dpa

Dabei haben die Pläne für die Zentren bereits konkrete Formen angenommen. Die EU-Asylagentur Easo soll in ihnen künftig alle Schritte des Asylverfahrens übernehmen, sagte Jamil Addou, der neue Chef der Behörde, im Gespräch mit dem SPIEGEL. Dazu gehöre die Ausschiffung, die Registrierung und die Befragung der Asylbewerber. Am Ende soll die Easo eine Einschätzung an die zuständigen nationalen Behörden übermitteln. "Die letzte Entscheidung über die Gewährung von Asyl bleibt klar bei den Mitgliedstaaten", betont Addou.

Nach Vorstellungen der Kommission soll das Pilot-Zentrum rund 100 Fachleute und 500 Asylbewerber beherbergen. Letztere sollen während des Asylverfahrens das Lager nicht verlassen dürfen - allerdings für höchstens vier Wochen, in denen das Asylverfahren abgeschlossen werden soll. Bei einem positiven Entscheid sollen die betreffenden Personen auf EU-Staaten verteilt werden, im Falle einer Ablehnung zügig in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden.

"Wir müssen beweisen, dass die EU zu einer strukturierten, nachhaltigen und berechenbaren Lösung fähig ist", meint Addou. Europas Partner in Afrika wären dann womöglich leichter zu überzeugen, die geplanten Ausschiffungsplattformen für Migranten auf ihrem Gebiet einzurichten: "Wir müssen glaubwürdig sein."