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Sorge um Krisenland Soll Deutschland der Türkei helfen oder nicht?

Der türkischen Wirtschaft droht der Kollaps. Das hätte Folgen weit über die Türkei hinaus. In dem Land regiert Präsident Erdogan wie ein Autokrat. Wie sollte Deutschland reagieren?
Straßenszene in Istanbul

Straßenszene in Istanbul

Foto: Lefteris Pitarakis/ AP

Der beispiellose Aufstieg von Recep Tayyip Erdogan, Spross einer armen Familie vom Schwarzen Meer, aufgewachsen in einem ärmlichen Viertel von Istanbul, zum mächtigsten Mann der Türkei hat in erster Linie mit der Wirtschaft zu tun. Unter Erdogan hat die Türkei sich zu einer Wirtschaftsmacht entwickelt. Den meisten Menschen geht es seit seinem Amtsantritt im Jahr 2003 als Regierungschef zumindest in finanzieller Hinsicht besser. Deshalb wählen sie ihn trotz seines autoritären Regierungsstils immer noch mit deutlicher Mehrheit.

Seit langem warnen Experten jedoch vor den Schwächen der türkischen Wirtschaft: Sie sei zu abhängig von ausländischen Investitionen, längst zögen Geldgeber ihr Kapital ab, der Konsum finde zu sehr auf Pump statt, zu viele Menschen seien zu hoch verschuldet. Außerdem habe Erdogan die Unabhängigkeit der Notenbank gekappt. Sie dürfe nicht, wie angesichts der schwächelnden Währung nötig, die Zinsen erhöhen, sondern müsse sie auf Anweisung Erdogans niedrig halten, um den Geldfluss anzukurbeln.

Doch der erwartete Einbruch blieb aus - bis ein politischer Streit jetzt einen Dominoeffekt auslöste. Die USA beklagen die Festnahme des US-amerikanischen Pastors Andrew Brunson, dem vorgeworfen wird, die PKK unterstützt zu haben. Beweise sind faktisch nicht vorhanden, es wirkt, wie so oft in der Türkei, wie ein politischer Prozess. Die Regierung in Ankara ist verärgert, dass die USA eine Auslieferung des in den USA lebenden Erdogan-Rivalen Fethullah Gülen verweigern, den Erdogan für einen Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich macht.

US-Präsident Donald Trump hat die Türkei aufgefordert, Brunson umgehend freizulassen. Als dies nicht geschah, verdoppelte er zu Wochenbeginn Zölle auf Aluminium und Stahl aus der Türkei. Das löste, unabhängig von seiner Bedeutung für die türkische Wirtschaft, Panik aus. Türkische Börsentitel verloren an Wert, die ohnehin seit Jahren schwache Lira brach dramatisch sein.

Die Frage: Sollen andere Länder einspringen?

Die Folgen eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs der Türkei wären weit über das Land hinaus spürbar. Bereits in Folge des Lira-Absturzes brachen auch die Währungen anderer Länder wie Südafrika, Russland und Indien ein - Anleger flüchteten in die harte Währung Dollar. Europäische Banken sind mit mindestens 150 Milliarden Euro in der Türkei engagiert. Und türkische Unternehmen, die ihr Geld in Lira verdienen, aber Schulden in Fremdwährungen begleichen müssen, geraten in existenzielle Not.

Müssen andere Länder der Türkei deshalb helfen? In Deutschland sind Politiker mehrerer Parteien der Meinung, dass eine Unterstützung angebracht ist - die jedoch an Bedingungen geknüpft sein muss, gerade weil Erdogan autokratisch regiert. Schadenfreude sei unangemessen, es gehe nicht um Erdogan, sondern um die Türkei, um die Menschen dort und um die langfristigen Beziehungen zu dem Partner.

Gleichwohl finden sie deutliche Worte für Erdogan. Er trage "in erster Linie selbst die Verantwortung für die Entwicklung der türkischen Wirtschaft", sagt Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dem SPIEGEL. "Seine autokratischen Tendenzen und seine Abgrenzung gegenüber der EU und ihren Werten haben das Vertrauen ausländischer Investoren erschüttert. Sie zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit der Türkei und sind in Sorge um die Zukunftsentwicklung der türkischen Gesellschaft."

Video: "Der Hauptverantwortliche ist Erdogan"

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Lage wird aufmerksam beobachtet

Dennoch bleibe die Türkei ein wichtiger Partner - "wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch". Daher sei Deutschland "selbstverständlich bereit, mit der Türkei zusammenzuarbeiten, um sie auch wirtschaftlich wieder zu stabilisieren". Allerdings müsse Erdogan neues Vertrauen aufbauen: "Hierzu gehört ein klares Bekenntnis zu westlichen Werten und zu Rechtsstaatlichkeit in Wort und Tat."

Ähnlich äußert sich Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Die Türkei sei ein wichtiges Land, dem man helfen müsse, "und zwar nicht nur wegen der Folgen, die ein Kollaps für Deutschland hätte". Man dürfe aber nicht vergessen, dass unter Erdogan "Zigtausende aus politischen Gründen ihre Jobs verloren haben und Tausende im Gefängnis sitzen, darunter Oppositionelle und Journalisten". Hilfe müsse daher "ganz klar an Bedingungen geknüpft werden", sagt Nouripour dem SPIEGEL. Die Türkei müsse zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren. "Damit helfen wir den Menschen in der Türkei nicht nur ökonomisch, sondern auch wirtschaftlich."

Die Bundesregierung hält sich zu der Frage, ob und wie sie die Türkei stützen müsse, zurück. Man beobachte die Lage "durchaus aufmerksam", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Aber "selbstverständlich" habe Deutschland "Interesse an einer wirtschaftlich stabilen Türkei".

Erdogan setzt auf Auseinandersetzung

Mehrere deutsche Politiker, die sich mit der Türkei befassen, sagen, die einzige Rettung der Türkei wäre ein "politischer Neuanfang" - also ein Rücktritt Erdogans. Doch das, wissen sie, ist unrealistisch, da Erdogan erst im Juni mit mehr als 50 Prozent wiedergewählt wurde. Und Erdogan selbst setzt auf Konfrontation mit den USA und der EU, er lehnt Unterstützung durch den Internationalen Währungsfond ab, weil er befürchtet, die Türkei würde dadurch ihre politische Unabhängigkeit verlieren.

Außenminister Heiko Maas (SPD) rät zu einer pragmatischen Lösung: den wegen Terrorvorwürfen festgehaltenen Pastor freizulassen und damit Trump zu besänftigen. "Das würde die Lösung der wirtschaftlichen Probleme ganz erheblich vereinfachen", sagte er in Berlin. Es sei übrigens im türkischen Interesse, wenn das Land auch deutsche Staatsbürger aus den Gefängnissen entlasse, die derzeit noch aus politischen Gründen inhaftiert seien.

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