Zwischen Mäusen und Menschen

Wissenschaftliche Befunde an Versuchstieren werden gerne für allgemeingültig und übertragbar gehalten. Sie sind es aber oft nicht. Ein trotziges Plädoyer für die Grundlagenforschung

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Ich liebe die Grundlagenforschung. Jederzeit würde ich sie gegen Angriffe verteidigen. Neugier ist die köstlichste Frucht der Intelligenz und der Motor aller Kreativität. Die Suche und Sucht nach Wissen, der Wille, die Welt besser zu verstehen, brauchen keine Rechtfertigung. Sie sind eines der Fundamente menschlicher Kultur. Ich wollte in keinem Umfeld leben, in dem die zwecklose Erkundung von Zusammenhängen verpönt wäre.

Manchmal macht es mir die Natur zwar nicht leicht. Aber gerade dann zeigt sich bei näherem Nachdenken der Wert der Grundlagenforschung.

Ist eine Maus eine Maus? Eine verwirrende Tagung

Zum Beispiel gibt es bei Ratten und Mäusen eine seit mehr als zehn Jahren bewährte Methode, um die erwachsene Sehrinde wieder dazu zu bringen, ihre Verschaltung zu ändern, wenn ein Auge für ein paar Tage verschlossen wird: Man hält die Tiere vorher fünf bis zehn Tage in absoluter Dunkelheit.

Als das erstmals gefunden wurde, wurde es höchstrangig publiziert, wirft es doch einerseits ein Licht auf die Mechanismen, wie die Formbarkeit kortikaler Verschaltungen geregelt wird, und bietet andererseits eine minimal-invasive, einfache Methode, wie eine Amblyopie (also die induzierte Fehlsichtigkeit eines Auges) zu heilen sein könnte.

Könnte. Denn einige Jahre später wiederholten Forscher aus dem kanadischen Halifax die Untersuchung mit Katzen. Ebenso wie Menschen, aber anders als Nagetiere, haben Katzen nach vorne gerichtete Augen. Ebenso wie Menschen, aber anders als Nagetiere, haben Katzen eine nach Augen- und Orientierungspräferenz wohlsortierte Sehrinde. Ebenso wie Menschen, aber anders als Nagetiere, verlassen sich Katzen auf ihren Gesichtssinn (s. hier eine Demonstration dafür, wie grottenschlecht Mäuse sehen). - Anders als Nagetiere zeigen Katzen keine erhöhte Plastizität nach zehn Tagen in Finsternis. Mäuse sind anders als Katzen

Ich erinnere mich auch an eine Konferenz in Amsterdam, auf der ich vor einigen Jahren war und Ergebnisse auf einem Poster vorstellte. Eine Kollegin aus dem Labor, in dem ich arbeitete, hatte gleichzeitig ein Poster. Sie hatte gezeigt, dass ein Schlaganfall, der ein gutes Stück weiter vorne in der Hirnhälfte lag, verschiedene Formen von Plastizität in der Sehrinde blockierte. Die Frage war: Wie?

Kurz zuvor erschienene Studien, die an Ratten gemacht worden waren, legten nahe, dass Wechselwirkungen zwischen den Hemisphären eine Rolle spielen könnten. Aber nach den Versuchen meiner Kollegin zu schließen, spielten solche Interaktionen zwischen den Hirnhälften bei Mäusen keine Rolle.

Eine aktuelle Studie schlägt in dieselbe Kerbe: Neurobiologen aus Detroit haben untersucht, wie der global ausgeschüttete Botenstoff Serotonin das Feuerverhalten von Nervenzellen im Stirnhirn beeinflusst. Serotonin ist einer der Transmitter, die unseren Schlaf-Wach-Rhythmus bestimmen, und damit auch die Ableitung neuronaler Aktivität im EEG. Zu verstehen, was es an Einzelzellen tut, könnte also letztlich zu erklären helfen, wie die Hirnrinde wach wird, und wie die EEG-Wellen entstehen. Es scheint also nützlich zu wissen, dass Serotonin bei Ratten diejenigen Neuronen aktiviert, die aus der Hirnrinde in tiefere Regionen Verbindungen machen, aber diejenigen Neuronen hemmt, die sich innerhalb der Hirnrinde unterhalten. Bei Ratten. Bei Mäusen ist es genau umgekehrt. Mäuse sind anders als Ratten.

Aber zurück nach Amsterdam: Quer in der anderen Ecke des Tagungssaals präsentierte zugleich eine ehemalige Kollegin aus Bielefeld ihre Daten. Sie hatte den an schwarzen Labormäusen gemachten, viel beachteten und zitierten Befund, dass im Hippokampus mehr neue Nervenzellen entstehen, wenn die Tiere laufen können, an weißen Mäusen und an Wildfängen zu replizieren versucht. Die Replikation klappte - bei den schwarzen und den weißen Labormäusen. Bei den Wildfängen hatte Laufen keinen Einfluss. Mäuse sind anders als Mäuse.

Und gleich neben meinem Poster hing eines von Adam Ranson. Der hatte sich elektrophysiologisch angeschaut, auf welche Weise sich die Verschaltung in der Sehrinde verändert, wenn ein Auge für ein paar Tage verschlossen wird. Er hatte dazu die schwarze Standard-Labormaus genommen - aber einmal vom großen Tierzuchtunternehmen Charles-River und zum Vergleich vom anderen großen Lieferanten Harlan. Bei letzteren fand ein wichtiger Plastizitätsmechanismus nicht statt. Und übrigens können auch wir die Mäuse vom nahen Uniklinikum nicht gebrauchen, weil sie absurde Werte liefern (was natürlich auf Gegenseitigkeit beruhen könnte). Schwarze Labormäuse sind anders als schwarze Labormäuse.

"Nichts ist klar und eindeutig"

Ich musste verstärkt an meinen Betreuer im Chemiepraktikum für Diplombiologen im Grundstudium denken. Ernst hieß er, glaube ich. Immer, wenn wir glaubten, ein unzweideutiges Ergebnis zu haben, sagte er seinen Lieblingsspruch: "Nichts ist klar und eindeutig." Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Aber er war zweifellos ein hervorragender Wissenschaftler.

Und natürlich fragte ich mich, was mein Tun für einen Sinn hatte. Ich finde an Mäusen etwas heraus. Genauer: an C57BL/6J-Mäusen, deren Alter und Geschlecht ich berücksichtige, unter einem 12h/12h-Tag/Nacht-Rhythmus, unter den klimatischen Bedingungen Mitteleuropas und in einer ziemlich unhygienischen Haltung. Ob sich das Ergebnis am Uniklinikum replizieren lassen würde oder an Mäusen aus sauberer Haltung, geschweige denn an Ratten oder beliebigen anderen Säugetieren, und ob es sogar irgendetwas über den Menschen aussagt - das kann ich nicht wissen. Ich muss es bezweifeln.

Zwar bezeichnen wir Mäuse gerne als "Modellorganismus". Aber ein Modell sind diese halbblinden Biester allenfalls für sich selbst. Was bringt das?

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