Parallele Realitäten in Venezuela

Blick in ein Wahllokal in Caracas. Bild: H. Neuber

Wie sich die Berichterstattung über die Krise und die heutige Wahl in dem südamerikanischen Land von der Lage vor Ort unterscheidet

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Auf fassendengroßen Plakaten schaut der Kandidat über die venezolanische Hauptstadt Caracas. "¡Dolarización Ya!" steht unter dem Bild von Henri Falcón, "Dollarisierung jetzt!"

Der ehemalige Vertraute von Hugo Chávez, dem 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten und Begründer der Bolivarischen Revolution, trat an diesem Sonntag gegen den Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro an. Es war eine Präsidentschaftswahl im Ausnahmezustand: Das Land erlebt eine Hyperinflation mit derzeit über 13.000 Prozent, Hunderttausende haben Venezuela in der Krise verlassen, weite Teile der Bevölkerung sind auf Nothilfen angewiesen.

Zugleich hat die Einflussnahme aus dem Ausland auf die venezolanische Politik mit dem Ziel eines Regime-Change ein bisher nicht gekanntes Ausmaß erreicht. Das bedeutet auch: Egal wer die Wahl heute gewinnt, er wird es nicht nur mit einer der schwersten Krisen in der jüngeren Geschichte des Landes zu tun haben, sondern national und international um Anerkennung kämpfen müssen.

Nach dem vorläufigen Endergebnis gewann Maduro mit 67,7 Prozent, während auf Henri Falcón 21,2 Prozent der Stimmen kamen.

Statt die Gunst der Stunde zu nutzen, ist die Opposition tiefer zerstritten denn je. Während Falcón, ehemaliger Militär, Gouverneur und Bürgermeister, von drei Parteien unterstützt antritt, boykottiert die radikalrechte Opposition die Wahl. Unterstützt werden diese Kräfte von den USA, der Europäischen Union, Kanada und einer Reihe lateinamerikanischer Staaten.

Luis Romero von der 2012 gegründeten Partei Progressive Vorhut (Avanzada Progresista, AP) des Kandidaten Falcón bedauert das. "Unser einziger Ausweg aus dem Problemen des Landes kann nur ein demokratischer Weg sein, der Weg der Wahlen", sagt er. Den aus dem Ausland unterstützten Weg des Wahlboykotts lehnt er klar ab: "Die radikale Opposition will Venezuela offenbar zugrunde richten, um dann auf den Ruinen des Landes eine neue Regierung zu errichten", so Romero, dessen Lager einen schweren Stand hat: Viele internationale Medien haben Falcón lange schlichtweg ignoriert.

Propaganda statt Analyse von Problemen

So berichtete die ARD unlängst zur besten Sendezeit, dass die Regierung Maduro "jeden namhaften Gegenkandidaten, jeden politischen Gegner ausgeschaltet hat". Solche Fake News zeigen ein zentrales Problem im Umgang mit Venezuela: Zahlreiche Journalisten, selbst solche, die sich in der Region auskennen sollten und spanisch sprechen, übernehmen unkritisch Darstellungen der Opposition, ohne sie zu überprüfen.

Dabei hätte es vor den Wahlen in Venezuela durchaus einige Entwicklungen gegeben, die kritisch hinterfragt werden müssten und durchaus auch an der chavistischen Basis hinterfragt werden. Dazu zählen etwa die Verwendung von staatlichen Ressourcen für den Wahlkampf des Regierungslagers oder der ungleiche Zugang der politischen Lager zu den staatlichen Medien. Ein genauer Blick würde sich auch auf die Festnahmen von Politikern lohnen.

Der inhaftierte Oppositionspolitiker Leopoldo López etwa sitzt wegen seiner Verwicklung in blutige Proteste Anfang 2014 in Haft und wird international gemeinhin als politischer Gefangener bezeichnet. Die Festnahme des ehemaligen Innenministers Miguel Rodríguez Torres Mitte März dieses Jahres unter weitaus undurchsichtigeren Umständen interessiert kaum, weil er keine Lobby hat. Was zeigt: Ein notwendiger genauer Blick auf das Geschehen in Venezuela fällt oft einer oberflächlichen und parteiischen Berichterstattung zum Opfer.

Auch die Hintergründe der venezolanischen Wirtschaftskrise bleiben zu oft unklar. So wird die Krise auf der einen Seite mit "Inkompetenz, Korruption und Vetternwirtschaft" der Regierung begründet, während das Lager der Chavisten die USA und einen "Wirtschaftskrieg" anführt. Die strukturellen Probleme aber liegen im Verfall des Erdölpreises auf dem Weltmarkt und einer wirklich widersinnigen Devisenbewirtschaftung, die es über Jahre hinweg erlaubt hat, zu einem staatlich subventionierten Kurs an Devisen zu gelangen, um sie für ein Vielfaches des Wertes auf dem Schwarzmarkt zurückzutauschen. So sind Milliarden US-Dollar Staatsgelder in private Taschen geflossen.

Die Mär vom Parteienverbot

Die politische Beeinflussung geht so weit, dass grundlegende Fehleinschätzungen die internationale Berichterstattung verfälschen. So etwa die These eines Verbotes oppositioneller Parteien in Venezuela. Der Richter am Obersten Gerichtshof, Maikel José Moreno Pérez, weist entsprechende Vorwürfe zurück. "Es wurde entschieden, das Parteienbündnis MUD zu den Wahlen nicht zuzulassen, weil sich einzelne Mitgliedsparteien dieser Allianz schon eingeschrieben hatten und eine Doppelmitgliedschaft nach dem Parteiengesetz unzulässig ist", so Mendoza.

Zudem hätten sich einige der Oppositionsparteien nach dem Boykott der Gouverneurswahlen Ende vergangenen Jahres nach bestehenden Gesetzen neu einschreiben müssen. Für die Neueinschreibung waren die Unterschriften von 0,5 Prozent der eingetragenen Wähler notwendig. Während sich die rechtspopulistische VP umgehend gegen eine Teilnahme aussprach, sammelten die sozialdemokratische Demokratische Aktion (Acción Democrática, AD) und die Partei PJ zunächst Unterstützerunterschriften. Nachdem der Prozess offenbar aber schleppend anlief, entschieden sich auch diese beiden Parteien in der zweiten Februarhälfte, die Wahlen am Sonntag zu boykottieren.

Andere Oppositionsparteien nehmen aber teil. So wird Falcón unter anderem von der christdemokratischen Partei Copei unterstützt. Die ARD-These, nach der die Regierung "jeden namhaften Gegenkandidaten, jeden politischen Gegner ausgeschaltet hat", ist also nachweislich falsch und wurde auf Kritik von Beobachtern vor Ort in neueren Berichten offenbar korrigiert.

Ist für die Toten nur die Regierung verantwortlich?

Auch das Thema der politischen Gewalt in Venezuela wurde in den vergangenen Jahren politisch instrumentalisiert. Ebenso wie bei der Frage der angeblichen Parteienverbote geht das vermittelte Bild an der Realität vorbei, wenn es etwa heißt, bei Oppositionsprotesten Anfang vergangenen Jahres seien rund 160 Personen von Sicherheitskräften oder chavistischen bewaffneten Strukturen ermordet worden.

Bei einem raschen Blick in eine der online verfügbaren Auflistungen der Opfer wird ersichtlich, dass es sich bei einigen um Anhänger der Regierung oder Sicherheitskräfte handelte. Andere der Opfer sind bei Plünderungen ums Leben gekommen.

Besonders krass zeigte sich die Manipulation bei beim World-Press-Photo-Award. Ausgezeichnet wurde das Bild eines brennenden Demonstranten, der durch einen Unfall Feuer gefangen hatte. "Venezuelas Krise in einem Bild", titelte das ZDF - verschwieg aber, dass just die oppositionellen Demonstranten mehrere tatsächliche oder mutmaßliche Anhänger der Regierung bei lebendigem Leib verbrannt haben.

Das Perfide an der Subsumierung all dieser Toten als Opfer der Regierung ist, dass der radikalen Opposition in Venezuela eine hohe Zahl von Toten zugute kommt. International kann sie die Regierung damit diskreditieren, während im Land bekannt ist, wer für die Opfer der "Guarimbas", der paramilitärisch organisierten Proteste, verantwortlich ist. Es sind parallele Realitäten, auf die man in Venezuela stößt, zwei Welten, die trotz Internet und Echtzeit-Kommunikation streng getrennt voneinander existieren.

All das bedeutet nicht, dass es keine Probleme gibt. Aber die Berichte über Auswirkungen und Ursachen politischer und sozialer Probleme in Venezuela stehen oft so stark unter politischem Einfluss, dass am Ende Fake News herauskommen. Ob dabei Vorsatz oder Fahrlässigkeit wirken, ist nebensächlich.

Demokratische Opposition hat schweren Stand

In dieser Situation fanden in Venezuela an diesem Sonntag die Präsidentschaftswahlen statt. Es handelt sich um die 24. landesweite Abstimmung in den 19 Jahren des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozesses, der als Bolivarische Revolution bezeichnet wird.

Zumindest auf politischer Ebene ist das internationale Interesse an einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Abstimmung längst parteiischen Zielstellungen gewichen. Die Bundesregierung hat nach entsprechenden Äußerungen aus den USA bereits abgelehnt, das Ergebnis der heutigen Wahlen anzuerkennen.

Rechtsgerichtete Staatschefs wie der Chilene Sebastián Piñera oder Juan Carlos Varela aus Panama äußerten sich klarer und sprachen der Präsidentschaftswahl die Legitimität ab. Innerhalb der EU wurden bereits in der vergangenen Woche neue Sanktionen gegen venezolanische Funktionäre diskutiert.

Zu erwarten ist, dass die maßgeblich von den USA und der EU unterstützten Teile der Opposition ab Montag erneut auf einen Eskalationskurs setzen. Die direkte Unterstützung aus dem Ausland wird die Spaltung der Opposition im Land in jedem Fall weiter vertiefen und eine gemeinsame Lösung der politischen und wirtschaftlichen Probleme behindern.

Die venezolanische Bevölkerung reagiert zunehmend resigniert auf die Aberkennung der Legitimität des Wahlprozesses. Wie schon bei den vergangenen Abstimmungen fand die Abstimmung heute unter direkter Mitwirkung der politischen Parteien statt, die sich dem Boykott nicht angeschlossen haben.

"Die Wahl heute ist sauber gelaufen", sagte ein Vertreter der Partei Avanzada Progresista in einem Wahllokal im Stadtteil El Valle im Zentrum von Caracas. Die Präsenz von Ständen der Parteien nahe der Wahllokale, über die Nothilfen für die Bevölkerung organisiert wird, sah der Mann kritisch. Vor allem die regierende sozialistische Partei ist mit "Roten Punkten" präsent. "Dadurch wird doch ohne Zweifel versucht, die Wähler zu beeinflussen", sagte der ehemalige Lehrer. Trotz dieser Kritik aber halten er und seine Partei an der Teilnahme am Wahlprozess fest. Sie stehen damit international recht alleine.

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