Mehr Gerechtigkeit: Die alte Leier frisch aufgeschulzt

Und damit will die SPD Wahlen gewinnen?

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Die alte SPD hat seit Neuestem, was man auf Neudeutsch wohl einen Shooting Star nennt: Martin Schulz, den Hoffnungsträger. Und der hat ein Motto, das alle Leute - vor allem aber die alten SPD-Anhänger - vor haltloser Begeisterung schier von den Stühlen reißt: "Mehr Gerechtigkeit". Die Begeisterung ist gerechtfertigt; denn da ist vorher noch niemand drauf gekommen. Das zeigt schon eine einfache Tour d'Horizon durch 150 Jahre sozialdemokratischer Geschichte:

Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit

"Unser Fundament: Gerechtigkeit. Eine gerechte Gesellschaft ist seit mehr als 150 Jahren Ziel sozialdemokratischer Politik." Leitspruch der sozialdemokratischen Wertekonferenz Gerechtigkeit von 2017 "Soziale Gerechtigkeit durch Demokratisierung des Staates!" Ferdinand Lassalle 1863

"Der Kampf um eine gerechtere Verteilung des Sozialprodukts, gestützt auf die Tatsache der gestiegenen Arbeitsleistung und des zunehmenden Sozialprodukts, ist ein Kampf, bei dem es nicht nur um dieses oder jenes Branchen- oder Sonderinteresse geht, sondern darum, dass ein neues Wirtschaftsdenken, vom Ganzen aus nämlich und mit der Demokratie als zu sichernde Lebensbedingung, um sich greifen muss." Herbert Wehner 1955

"Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die aus der gemeinsamen Verbundenheit folgende gegenseitige Verpflichtung, sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens... Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand und eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft, ein Leben in Freiheit ohne unwürdige Abhängigkeit und ohne Ausbeutung." Godesberger Programm der SPD von 1959

"Die SPD ist die Partei in Deutschland schlechthin, die Freiheit und Gerechtigkeit miteinander verbindet. Die Kommunisten haben eine gerechte Gesellschaft versucht, und die Freiheit geopfert. Die Liberalen, denen ist die Freiheit so wichtig, dass sie sagen, Gerechtigkeit ist vergleichsweise weniger wichtig. Die SPD ist die Partei, die für den untrennbaren Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit steht." Selbstdarstellung der SPD

"Die Sozialdemokratische Partei hat eine Idee; das ist die Idee von einem Gemeinwesen, in dem das Menschenmögliche an sozialer Gerechtigkeit verwirklicht wird. Die anderen müssen sich Ersatzideologien suchen und an solchen aufranken." Herbert Wehner 1966

"Demokratischen Sozialismus verstehen wir als die dauernde Aufgabe Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren. Dies und die Solidarität sind der geistig, politische Boden auf dem allein die Sozialdemokratie gedeihen kann." Willy Brandt 1969

"Es wird sich noch als geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem demokratischen Sozialismus zugrunde liegende Ideal die Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als überholt abtun zu wollen. Manche werden sich noch wundern, als wie abwegig sich ihre Grabgesänge erweisen." Willy Brandt 1983

"Wir brauchen in jedem Fall mehr soziale Gerechtigkeit." Oskar Lafontaine 1998

"Unsere Agenda 2010 enthält weitreichende Strukturreformen. Diese werden Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen. Dadurch werden die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gesichert und die Fundamente unseres Gemeinwesens gestärkt." Gerhard Schröder 2003

"Ich bin in die Politik gegangen, damit es in unserer Gesellschaft sozialer und gerechter zugeht. Für diesen Weg habe ich einen klaren Kompass… Schwarz-Gelb darf keine Mehrheit erhalten, weil die marktradikale Ideologie, die uns in die Krise geführt hat, nicht die Antwort auf die Krise sein kann… Die SPD steht dagegen für soziale Gerechtigkeit." "Es geht um die Zukunft unseres Landes, um Arbeitsplätze und damit die Lebensperspektive von Hunderttausenden in Deutschland." Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat 2009

"Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die - und nur um sie - muss sich Politik kümmern." … "Die Fliehkräfte in dieser Gesellschaft nehmen zu: durch eine wachsende Kluft in der Vermögens- und Einkommensverteilung, durch unterschiedliche Startchancen von Kindern aus materiell besser gestellten Etagen unserer Gesellschaft und Kindern aus bildungsferneren Schichten, durch die Spaltung des Arbeitsmarktes, weil die Zahl der unsicheren und unterbezahlten Jobs zunimmt, und auch durch finanziell marode Kommunen, die ihre sozialen Brennpunkte nicht mehr in den Griff kriegen, weil ihnen das Geld dafür fehlt." Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat der SPD 2012

"Die Zeit ist reif: Mehr Gerechtigkeit wagen." Positionspapier der SPD Schleswig-Holstein 2016

"Neue Zeiten erfordern neue Ideen. Ideen, die ‚neue Gerechtigkeit‘ in unser sich ständig wandelnden Welt sicherstellen. Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion ein Jahr lang einen breit angelegten Dialog mit Fachleuten, Organisationen und Bürgerinnen und Bürgern geführt, und mit ihnen gemeinsam Konzepte für die Herausforderungen der Zukunft erarbeitet." Zukunftsprojekt der SPD-Bundestagsfraktion 2016

Wer hat uns verraten ….

In denselben hundert Jahren, in denen die SPD nicht müde wurde, das Schlagwort von "mehr Gerechtigkeit" bis an die Grenze des Erträglichen vor sich hinzubeten und zugleich an vielen Bundesregierungen beteiligt war, wuchs die Ungerechtigkeit im Lande. Trotz - oder etwa wegen? - der Regierungsteilhabe der Sozialdemokraten riss die Kluft zwischen Arm und Reich in rasantem Tempo. Eine stattliche Reihe von Gesetzen der SPD hat namhaft zum Aufreißen dieser Kluft beigetragen.

Die SPD hingegen blieb stets dieselbe. Und dieser Umstand soll den von Martin Schulz so unglaublich begeisterten Wählern so ganz und gar entgangen sein? Und das auch noch auf Dauer oder wenigstens einen längeren Zeitraum? Es soll ja auch Leute geben, die an den Weihnachtsmann glauben.

Die repräsentativen Demokratien unserer Zeit kennen ein Institut, das alle Zeitgenossen pausenlos preisen, das Institut des "Hoffnungsträgers". Martin Schulz ist ohne jeden Zweifel ein Hoffnungsträger - so wie François Hollande einer war, als er im Protest gegen seinen Vorgänger gewählt wurde, der übrigens bei seiner Wahl auch einer war. Heute ist keiner von beiden mehr einer. Keiner von ihnen kann es sich mehr leisten, vor ihren Wählern zu erscheinen - so sehr haben sie abgewirtschaftet. Peer Steinbrück war auch für kurze Zeit ein großer Hoffnungsträger so wie Frank-Walter Steinmeier, als er für das Kanzleramt kandidierte.

Das ist das verbindende Merkmal aller Hoffnungsträger aller Zeiten: Sie waren einmal ungemein beliebt. Wahre Strahlemänner. Es ist das unausweichliche Merkmal aller Strahlemänner, dass ihr Glanz alsbald nur noch matt glänzt und dann endgültig bröckelt, wenn sie mit der alltäglichen politischen Realität in Berührung kommen. Hoffnungsträger sind stets Leute, deren Ruf so schnell ruiniert ist, dass kaum noch jemand sich daran erinnern mag, dass sie mal Hoffnungsträger waren.

Schulz mag anfangs noch heller als die Sonne strahlen, aber irgendwann wird den Wählern klar, dass er dieselbe politische Partei vertritt, die jahre-, ja jahrzehntelang für die politischen Weichenstellungen (mit)verantwortlich war und ist, die dazu geführt haben, dass "es nicht gerecht zugeht in Deutschland" - wie Martin Schulz neuerdings formuliert. Wieso soll man dann die Partei noch wählen, die sich einstweilen noch als der große Hüter der Gerechtigkeit aufführt?

Die politischen Parteien sind in dieser Welt der größte Klotz am Bein der Demokratien. Sie sind die letzten Dinosaurier, die es geschafft haben, in die Moderne hinein zu überleben. Sie behindern jeden Tag aufs Neue dringend gebrauchte Lösungen und verschärfen so kontinuierlich die Krise der repräsentativen Demokratien und die grenzenlose Ausbreitung von Ungerechtigkeit. Sie sind Überbleibsel aus einer versunkenen Welt. Und die Parteiendemokratie ist das letzte verbliebene Naturreservat der politischen Dinosaurier in der neuen Zeit.

Da die politischen Parteien programmatisch in nahezu jeder Hinsicht übereinstimmen, so gut wie austauschbar sind und einander bei Bedarf auch mal die Themen klauen, liegt die politische Macht vollständig in den Händen eines Parteienkartells.

Nur nach außen hin tragen die Parteien ab und zu noch Schaukämpfe aus, die inhaltlich keine Alternativen bieten, oder sie lassen ihre Repräsentanten einander in Talkshows gegenseitig anschreien.

Die Wahlkämpfe sind ein reiner Schwindel, der programmatische Verschiedenheit lediglich vortäuscht. Eine kalkulierte Inszenierung von Themen, die sich die Funktionäre der Parteien in trauter Gemeinschaft mit ihren PR-Beratern ausgewählt haben, weil sie erwarten, mit dem jeweiligen Potpourri an Pseudothemen Wahlen gewinnen zu können. Themen, die den Bürgern unter den Nägeln brennen, werden darin gezielt ausgespart. Was schert's die Repräsentanten, was die Bürger wollen …

Auf Wahlkämpfe treffen die Worte George Orwells aus "1984" über den Krieg zu: "Es ist das Gleiche wie die Kämpfe zwischen gewissen Wiederkäuern, deren Hörner in einem solchen Winkel gewachsen sind, dass sie einander nicht verletzen können. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist er doch nicht zwecklos. Durch ihn wird der Überschuss von Gebrauchsgütern verbraucht, und er hilft, die besondere geistige Atmosphäre aufrechtzuerhalten, die eine hierarchische Gesellschaftsordnung braucht."

Die politischen Parteien sind in den entwickelten repräsentativen Demokratien zu Wahlvereinen für den einen oder den anderen Kanzler verkommen, zu dauerhaften Kartellen, die Posten an ihre Mitglieder und Funktionäre verschieben.

Charakteristikum der "politischen Kommunikation" in Wahlkämpfen ist die Dominanz des Trivialen, die gnadenlose Banalisierung der Politik mit albernen Slogans wie "Wir halten zusammen", "Politik mit Herz" oder gar "SPD ist Currywurst" im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf von 2012 und die ollste Kamelle allen dämlichen Politgeschwafels "Der Mensch steht im Mittelpunkt" oder auch "Für mehr Gerechtigkeit".

Für die weitgehend austauschbaren Volksparteien haben die ursprünglichen Ziele von Wahlkämpfen - nämlich politische Alternativen aufzuzeigen - völlig an Bedeutung verloren. Die Parteien üben sich stattdessen in einfältiger Polemik gegenüber den politischen Gegnern. Sachfragen spielen in diesen Schlammschlachten ohne allzu viel Schlamm keine Rolle mehr. Da nimmt es nicht wunder, dass die Wähler politikverdrossen werden.

Wahlkämpfe dienen nicht mehr dazu, die Wähler zwischen Alternativen entscheiden zu lassen. Sie sind professionell inszenierte Spiele, für die Parteiführungen politische Themen aufbereitet haben, die sie für die Bevölkerung von PR-Experten auf theatralische Weise in Szene setzen lassen. Wahlen dienen nur noch dazu, den demokratischen Schein zu wahren. Entscheidungen fallen andernorts. Die Demokratie schafft sich ab oder hat sich längst abgeschafft.

Aufgeblasene Rhetorik als Ersatz für inhaltliche Konzepte

Je ähnlicher die Volksparteien einander im Laufe der Jahre wurden, desto stärker wurde der Zwang, die Unterschiede zum jeweiligen Gegner wenigstens rhetorisch aufzuplustern. Und so kommt es im politischen Basisalltag zu einer fast absurden Verzerrung der Realität: Je mitreißender ein Wahlkämpfer zu reden und die Zuhörer davon zu überzeugen versteht, dass er und seine Partei die besseren Konzepte haben, desto besser sind seine Chancen, als Kandidat aufgestellt zu werden.

Dabei plädiert er doch nur für eine von mehreren politischen Parteien, die allesamt einigermaßen vergleichbare Konzepte vertreten - auf jeden Fall aber Konzepte, die sich häufig gar nicht, nur marginal oder nicht unbedingt wesentlich voneinander unterscheiden.

Im günstigsten Fall überzeugt er seine Zuhörer von der Überlegenheit von Konzepten, die in Wahrheit gar nicht überlegen sind. Das aber qualifiziert ihn für spätere Ämter. Und er lernt, sich selbst und anderen nach Herzenslust in die Tasche zu lügen. Nicht zwangsläufig durch bewusstes Lügen, sondern oft auch nur in Form des Selbstbetrugs.

Man sollte diese alltägliche praktische Erfahrung von Aktivisten und Parteifunktionären nicht unterschätzen. Mag sein, dass die politische Wichtigtuerei und das gockelhafte Gehabe von Funktionären Außenstehenden albern erscheint. Doch es charakterisiert das Verhalten und das Denken der politischen Aktivisten in Demokratien. Ihre Mentalität ist dadurch geprägt, dass sie mit wichtigtuerischem Auftreten, leichtfertigem Selbstbetrug, verbalem Getöse und pompöser Rhetorik erfolgreich sein können. Es gehört zu ihrer Alltagserfahrung, dass so etwas funktioniert.

Wolfgang Koschnick ist Autor des Buchs "Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr", das 2016 im Westend Verlag in Frankfurt am Main erschien.