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Anschläge und Terrorangst Apocalypse Now

München, Würzburg, Nizza, Brüssel - angesichts der vielen Schreckensmeldungen fragen sich viele Deutsche: Ist 2016 das schlimmste Jahr des 21. Jahrhunderts? Von Mathieu von Rohr
München, 22. Juli 2016: Passanten werden aus dem Olympia-Einkaufszentrum geleitet

München, 22. Juli 2016: Passanten werden aus dem Olympia-Einkaufszentrum geleitet

Foto: Joerg Koch/ Getty Images

Ist die Welt verrückt geworden? Die Frage treibt in diesen Tagen viele Menschen um. Ein Gefühl hält Einzug, dass die Welt aus dem Tritt geraten sei, dass die vielfachen Krisen näher an uns heranrücken, dass uns die ferne Weltpolitik nun persönlich gefährlich werden kann.

Wie soll man umgehen mit diesem Gefühl, in einer Epoche zu leben, die man nicht mehr ganz versteht? "Ich bin es leid, in interessanten Zeiten zu leben", schrieb vor einigen Tagen ein Nutzer auf Twitter, und sein Satz wurde über tausendmal geteilt. Täglich kann man in den sozialen Netzwerken nun Nachrichten lesen wie: Was ist denn eigentlich mit 2016 los? Wann ist es endlich vorbei? Was hält es noch für uns bereit? 2016 ist ein Jahr, in dem sich die weltpolitischen Ereignisse in beunruhigender Weise überschlagen.

Es verdichtet sich etwas, es braut sich womöglich etwas zusammen, aber ohne dass sich eine klare Richtung abzeichnete. Es ist, als verliefe jene Entwicklung immer schneller, die schon 2011 mit dem Arabischen Frühling begann, sich mit den Kriegen in Libyen und Syrien fortsetzte und schließlich vom Ukrainekonflikt mit Russland und der jüngsten Generation von Terroranschlägen noch einmal verstärkt wurde - die Destabilisierung jener Welt, wie wir sie seit 1989 kennen.

Als am Freitag vor einer Woche die Pushnachrichten auf den Handys eintrafen, die vom Militärputsch in der Türkei berichteten, waren wir noch erschüttert vom Terroranschlag in Nizza. Nun legte sich schon die nächste Krise über den Schock. Diese Woche attackierte dann bei Würzburg ein 17-Jähriger chinesische Touristen mit einer Axt. Nun München.

Erst einen Monat ist es her, dass die Briten den Austritt aus der Europäischen Union beschlossen. Die USA sind gebeutelt von Rassenunruhen, dem Attentat von Orlando - und dem Aufstieg des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump.

18. Juli 2016: Ein 17-Jähriger aus Afghanistan griff Menschen mit Axt und Messer an

18. Juli 2016: Ein 17-Jähriger aus Afghanistan griff Menschen mit Axt und Messer an

Foto: dpa

Dabei war 2016 nur das schlimmste Jahr seit 2015, dem Jahr der großen Flüchtlingskrise. Und 2015 war nur das schlimmste Jahr seit 2014, dem Jahr des heißen Kriegs in der Ukraine.

Wir leben in einer Zeit der Schocks und Krisen, die in ihrer raschen Abfolge, in ihrer Verdichtung, etwas Traumatisierendes haben können. Weil nicht klar ist, ob sie nur eine vorübergehende Erschütterung sind oder der Beginn einer Entwicklung, deren Ende sich noch nicht absehen lässt. Zwar bleibt die reine Zahl der Konflikte seit Jahren in etwa gleich. Doch vieles deutet darauf hin, dass wir uns in einer neuen Ära globaler Instabilität befinden. Die große geopolitische Erzählung unserer Zeit ist die Destabilisierung des Nahen Ostens, der europäischen Sicherheitsordnung und der Europäischen Union. Damit verbindet sich eine gesellschaftliche Umwälzung in vielen Ländern des Westens: die Wut vieler Bürger auf ihre politischen und gesellschaftlichen Eliten, weil sie sich als Opfer von Globalisierung, Freihandel und Zuwanderung sehen. Die Wut führt zum Aufstieg politischer Bewegungen, die vor wenigen Jahren nur eine Randexistenz führen konnten: Donald Trump, die Brexit-Bewegung, der Front National, die AfD. Die klassischen politischen Lager lösen sich auf, der Kampf von Links gegen Rechts wird abgelöst vom Kampf der Isolationisten gegen die Internationalisten.

Es gibt immer wieder weltpolitische Phasen, in denen sich binnen Wochen so viel ereignet wie sonst in Jahrzehnten nicht. Gehören die Jahre 2014 bis 2016 dazu? Sie sind zumindest bisher nicht zu vergleichen mit den wirklich dramatischen Phasen des vergangenen Jahrhunderts, als die beiden Weltkriege ausbrachen, auch nicht mit 1989, als der Kalte Krieg endete und die Welt sich neu ordnete. Und es ist auch unklar, ob das Jahr mit der gleichen chaotischen Gewalt zu Ende gehen wird.

Aber es ist doch wahrscheinlich, dass die globale Unsicherheit zur neuen Normalität wird. Die stabilere alte Welt wird nicht wiederkehren, und wir müssen uns darauf einstellen, dass wir in einer Zeit leben, in der vieles auf dem Prüfstand steht: das Gleichgewicht zwischen den Mächten USA und China, die Zukunft der EU, die Ostflanke der Nato, die globale Wirtschaftsordnung, das Verhältnis zwischen Moderne und Religion, die Demokratie und die Menschenrechte im Westen.

18. Juli 2016: Erdogan-Anhänger in Ankara: Forderung nach Todesstrafe

18. Juli 2016: Erdogan-Anhänger in Ankara: Forderung nach Todesstrafe

Foto: ARIS MESSINIS/ AFP

Wie das alles miteinander zusammenhängt, lässt sich naturgemäß schwer beantworten. Es gibt kausale und zufällige Effekte, es gibt klare Verbindungen, und oft sind wir auf Vermutungen angewiesen. Hat die Leichtigkeit, mit der Attentäter auch im Westen morden, etwas mit den ungeheuerlichen Bildern zu tun, die aus Syrien zu uns kommen? Lassen sich Militärs wie in der Türkei leichter zu einem Putsch verleiten, wenn sie selbst in einem gewaltsamen Konflikt stehen und in der näheren Region Chaos herrscht? Und lässt sich Erdoan von Putin inspirieren, wenn er die Europäische Menschenrechtskonvention suspendieren lässt? Instabilität erzeugt Instabilität, das können wir nun täglich beobachten.

Es ist schwer zu sagen, wann es begann, dass die Welt instabiler wurde. Es ist eine Binsenweisheit, dass 1989 nicht das Ende der Geschichte einleitete, wie der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama damals vorhersagte. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es die beiden Supermächte nicht mehr, deren Rivalität die Welt gewissermaßen eingefroren hielt. Nach einer kurzen Phase alleiniger amerikanischer Dominanz und der relativen Ruhe in den Neunzigern kehrte die Geschichte dann doch wieder: mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Irakkrieg, der für vieles von dem mitverantwortlich ist, was die Welt heute heimsucht.

15. Juli 2016: Trauer in Nizza nach der Terrorfahrt mit Duzenden Todesopfern

15. Juli 2016: Trauer in Nizza nach der Terrorfahrt mit Duzenden Todesopfern

Foto: Ian Langsdon/ dpa

Der Irakkrieg hatte zwei Folgen. Er leitete den Zerfall des irakischen Staates und den Aufstieg des Terrorismus in jener Region ein - der IS wurde bekanntlich aus den Trümmern von Saddam Husseins Herrschaft geboren. George W. Bushs Krieg markierte die Überdehnung der amerikanischen Militärmacht und den Beginn eines neuen Isolationismus in der US-Außenpolitik.

Barack Obama leitete den Rückzug der USA aus dem Nahen Osten und aus Europa ein; er wollte sich stärker auf den Pazifik konzentrieren, wo China seinen historischen Vorhof für sich reklamiert. Er wollte den Interventionismus hinter sich lassen, entschied sich dagegen, in Syrien einzugreifen, und ließ zu, dass die Situation in der Region weiter außer Kontrolle geriet.

Wenn weder die USA noch die Europäer oder eine andere Macht für Ordnung sorgen wollen, entsteht ein geopolitisches Vakuum - und damit haben wir es jetzt zu tun. Auch China hat an einer globalen militärischen Rolle bisher kein Interesse. Sollte Donald Trump Präsident werden, würde Amerika sich noch weiter zurückziehen. Es wäre das Ende der Nato, wie wir sie kennen. Dass die Europäer in die Lücke springen, die Amerika hinterlässt, ist unwahrscheinlich angesichts ihrer eigenen Schwäche. Der Westen wirkt außenpolitisch impotent.

Die zweite Ursache für die geopolitische Unsicherheit im Nahen Osten ist die Arabellion. Sie entsprang dem Unmut über die wirtschaftlichen Bedingungen in arabischen Ländern, der durch das hohe Bevölkerungswachstum verstärkt wurde. Wütende junge Menschen stürzten die postkolonialen Herrscher, deren Macht brüchig geworden war. Doch statt mehr Demokratie und Wohlstand folgten darauf in vielen Staaten Chaos, sektiererische Auseinandersetzungen, und es folgte eine Destabilisierung der ganzen Region.

In Syrien, Libyen und im Irak sind die alten Staaten zerfallen, die von den Kolonialmächten gesetzten Grenzen lösen sich auf. Manche Politikwissenschaftler fühlen sich angesichts der Unruhen in der ganzen Region an den Dreißigjährigen Krieg erinnert. Die Destabilisierung des Nahen Ostens hat nun die Türkei erfasst, auch dort steht das alte Staatsgebilde infrage, ein Bürgerkrieg droht, der Konflikt zwischen politischem Islam und laizistischer Tradition zerreißt das Land. Und je weiter sich die Türkei von Europa entfernt, traditionell ein Puffer zwischen Ost und West, desto stärker wirken sich die Unruhen der Region auf Europa aus.

Die geopolitischen Wirren würden aber bei uns nicht dieselbe Bedeutung erlangen, träfen sie nicht auf einen im Innern verunsicherten Westen. Die Schocks treffen uns so hart, weil wir uns unserer selbst nicht mehr sicher sind. Die äußere Instabilität verstärkt die innere Instabilität.

Der Terrorismus bedroht unseren Alltag, der Nationalpopulismus bedroht die politische Kultur. Seit der Finanzkrise von 2007 herrscht Unsicherheit darüber, ob der Kapitalismus noch funktioniert; viele europäische Länder leiden unter niedrigem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und wachsender Ungleichheit. Daraus ist eine neue Klasse von Wutwählern erwachsen, die sich abgehängt, bedroht und nicht repräsentiert fühlt. Die Nutznießer der Krise sind die Nationalpopulisten. Sie sympathisieren mit dem Autoritarismus von Putin, schüren den Kampf gegen den Islam und sehnen das Ende der EU herbei. Sie bekämpfen den Westen von innen.

Noch etwas Besorgniserregendes ist im Westen geschehen: Die Neigung zu Verschwörungstheorien, die nach der Arabellion über Facebook und Twitter die Atmosphäre in den betroffenen Ländern vergiftete, sucht zunehmend auch unsere Staaten heim. Auch hier löst sich bei manchen Bürgern die Gewissheit auf, dass es eine auf Fakten basierte Wahrheit gibt. Die Glaubwürdigkeit von klassischen Medien und Politikern wird angezweifelt, es werden Lügen und Gerüchte geglaubt.

Zu Beginn des Arabischen Frühlings gab es eine Debatte darüber, ob es die Aufstände in Tunesien, Ägypten oder Syrien ohne Facebook und Twitter gegeben hätte. Dass es sie trotzdem gegeben hätte, ist sehr wahrscheinlich - doch sie hätten sich ohne Internet wohl kaum so schnell verbreiten können.

Juni 2016: Überraschend stimmen Großbritanniens Bürger für den EU-Austritt

Juni 2016: Überraschend stimmen Großbritanniens Bürger für den EU-Austritt

Foto: JUSTIN TALLIS/ AFP

Das Gleiche gilt nun auch jetzt: Die sozialen Medien bringen uns die Welt so nahe wie nie zuvor, sie helfen uns, sie zu verstehen, und zugleich tragen sie dazu bei, dass sich das Gefühl der permanenten Krisenhaftigkeit verstärkt und festsetzt. Sie verstärken und verbreiten die neue Unsicherheit, sie tragen jeden einzelnen Schock, jeden Anschlag und jede Grausamkeit um die Welt, und sie geben auch jenen ein Forum, die sie weiter anheizen wollen. Sie erschweren es zusätzlich, den Überblick zu behalten über diese chaotische Welt.

Viele von uns verstehen die Welt nicht mehr, und vermutlich werden erst die Historiker nachfolgender Generationen diese Übergangsjahre richtig einordnen können, die wir gerade durchleben. Es ist eine Zeit, in der es darum geht, sich nicht in Panik versetzen zu lassen, sich der eigenen Werte sicher zu sein und weiter für die Gesellschaft zu kämpfen, an die man selber glaubt. Die geopolitischen Wirren lassen sich am besten dann überstehen, wenn man im Innern gefestigt ist. Dann fällt es auch leichter, außenpolitisch Verantwortung zu übernehmen, Diktatoren entgegenzutreten und Krisen zu managen.