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Schulz-Plan nach Brexit Deshalb bekommt die EU keine Regierung

Eine "echte europäische Regierung" fordert EU-Parlamentschef Martin Schulz. Eine charmante Idee - und unrealistisch. Dennoch ist der Brexit eine Chance für die Europäische Union. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz

Foto: imago/ZUMA Press

Der Brexit war eine persönliche Niederlage für ihn. Aber Martin Schulz will nicht lockerlassen. Zehn Tage nach dem Referendum, in dem die Briten für den EU-Austritt stimmten, wirbt der Präsident des Europäischen Parlaments für eine große Reform. Die EU brauche eine "echte europäische Regierung", schreibt Schulz in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Dem SPD-Politiker geht es darum, den Brexit-Schock zu nutzen und die europäische Integration zu vertiefen. Damit stößt er auf Widerstand, nicht nur bei EU-Kritikern, sondern auch bei der Union. Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble schrecken beide davor zurück, Brüssel mitten in der Krise zu stärken.

Wie genau stellt Schulz sich die Reform der EU vor und wie realistisch ist sein Vorstoß? Die wichtigsten Fragen im Überblick.

Was schlägt Schulz vor?

Der EU-Parlamentschef regt an, die Kommission zu einer europäischen Regierung umzubauen. Wie in der Bundesrepublik über den Bundestag solle eine Mehrheit des Parlaments künftig den Regierungschef wählen und kontrollieren.

Der Vorteil: Die komplizierte Struktur der EU würde aufgelöst, die Gewaltenteilung übersichtlicher und demokratischer. Wer mit der EU unzufrieden sei, so Schulz, müsse sie "nicht mehr grundsätzlich infrage stellen", sondern könne die Regierung abwählen.

"Schulz strebt eine Vollparlamentarisierung der EU an", sagt Berthold Rittberger, Politikwissenschaftler an der Universität München. In den vergangenen Jahren habe es bereits eine "schleichende Parlamentarisierung" gegeben, so Rittberger.

Was er meint: Im Vertrag von Lissabon wurden die Rechte des Parlaments gestärkt und bei der Europawahl 2014 traten erstmals Spitzenkandidaten an. Zudem musste der Europäische Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs sitzen, bei der Wahl von Kommissionschef Jean-Claude Juncker das Votum des Parlaments beachten.

Was steckt hinter dem Vorschlag?

Schulz will die europäische Integration vorantreiben. Er betrachtet den Brexit als Chance, die EU ohne die Briten grundlegend zu reformieren.

Klar ist: Die EU hat ein Demokratiedefizit. Das liegt aber weniger an der unbeliebten Kommission oder an dem schwachen Parlament. Das eigentliche Problem sind die Klüngeleien der Regierungschefs im Europäischen Rat. Ohne parlamentarische Kontrolle treffen Merkel, Hollande und ihre Kollegen wichtige Entscheidungen, die Kommission ist oft nur ihr Erfüllungsgehilfe.

Schulz schreibt, bei einer echten Regierung, die vom Parlament kontrolliert werde, könnten die Staats- und Regierungschefs sich die Erfolge der EU nicht länger "ungeniert selbst zuschreiben".

Derzeit läuft es so: Die positiven Entwicklungen, etwa wirtschaftlich, verbuchen die Mitgliedstaaten als eigene Erfolge. Die Schuld an den Problemen, etwa in der Flüchtlingskrise, schieben sie dagegen der EU zu.

Der Parlamentschef hofft, mit einer Parlamentarisierung das Image der EU zu verbessern. Zugleich ist sein Vorstoß eine Abgrenzung der SPD von der Union und Kanzlerin Merkel. Sie vertritt die Position, die Brexit-Krise sei die Stunde der Regierungschefs. Statt Kompetenzen an Brüssel abzugeben, müssten Berlin, Paris und Rom zusammenarbeiten und die EU retten.

Wie realistisch ist Schulz' Idee?

So schön der Vorschlag auch klingt: Martin Schulz' Idee einer europäischen Regierung hat keine Chance auf Umsetzung. Hintergrund ist ein Konstruktionsfehler der EU, wonach alle Änderungen der europäischen Verträge einstimmig beschlossen werden. Das heißt: Jedes der bald noch 27 Mitgliedsländer muss einer Reform zustimmen und diese ratifizieren - sei es durch eine Abstimmung des nationalen Parlaments oder eine Volksbefragung.

"Daher ist die EU einer Diktatur des Zauderns unterworfen", sagt Thomas Schmitz, Europarechtler an der Universität Göttingen. "Die Integration läuft nur so langsam, wie es das europaskeptischste Land will."

Auch nach einem Austritt der EU-kritischen Briten bleiben mehrere Staaten übrig, mit denen eine Machtverschiebung Richtung Brüssel nicht zu machen ist. Dazu zählen vor allem Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien.

Was sind die Alternativen?

Da die EU in ihrer derzeitigen Verfassung nicht reformfähig ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste ist, dass sich eine Kern-EU herausbildet, mit Mitgliedern, die mehr Integration wollen und sogenannten Light-Mitgliedern, die nur Teile der EU-Politik umsetzen. "Diese differenzierte Integration gibt es ja schon", sagt Politikwissenschaftler Rittberger und verweist auf Großbritannien, das weder Teil des Schengener Abkommens ist noch den Euro eingeführt hat.

Auch die Schweiz und Norwegen sind keine EU-Mitglieder, profitieren aber von den Vorteilen des Binnenmarkts, unterwerfen sich teilweise EU-Regeln und zahlen - im Fall von Norwegen - sogar in den EU-Haushalt ein.

Radikaler ist die Alternative, die Europarechtler Schmitz ins Spiel bringt. Er sagt, der Brexit könne im Extremfall dazu führen, dass die EU als Konstruktion auseinanderbricht. "Das wäre die Chance für Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande, etwas Neues zu starten."

Eine neue Europäische Union müsste einfacher und transparenter konstruiert sein und die Verantwortlichkeiten im Positiven wie im Negativen deutlicher machen, so Schmitz: "Vor allem aber müsste sie so konstruiert sein, dass nicht mehr einzelne Mitgliedstaaten wichtige Reformen verhindern können."

Wenn die sechs Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaften vorangehen würden, sagt Schmitz, gebe es die Chance, dass sich andere integrationswillige Staaten anschließen und eine neue, besser funktionierende Gemeinschaft entstünde. Sein Fazit: "Der Brexit ist die größte Chance, die die EU in den vergangenen 20 Jahren hatte."