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Anonymous.Kollektiv auf Facebook Denn sie wissen nicht, was sie liken

Unter der Flagge von Anonymous bekämpfen Internetnutzer den "Islamischen Staat" - das weckt Interesse. Davon profitiert momentan vor allem eine Facebook-Seite, die sich als Anonymous inszeniert. Sie wird allerdings von der Netzbewegung verachtet.
Facebook-Seite von Anonymous.Kollektiv: Verschwörungstheorien statt Anonymous-Informationen

Facebook-Seite von Anonymous.Kollektiv: Verschwörungstheorien statt Anonymous-Informationen

Die Nachricht, dass Hacker IS-Propaganda im Internet ausschalten wollen, interessiert die Menschen. Wenige Artikel wurden im Netzwelt-Ressort von SPIEGEL ONLINE in den letzten Tagen so häufig aufgerufen. Noch am Tag der Veröffentlichung kam der Text auf mehrere Hunderttausend Klicks.

Das große Interesse an der Anonymous-Aktion, die unter Hashtags wie #OpISIS seit Monaten läuft und seit den Anschlägen von Paris mehr und mehr Unterstützer findet, schlägt sich nicht nur auf Nachrichtenseiten nieder. Auch auf Facebook hatten in den letzten Tagen offenbar viele Nutzer das Bedürfnis, einer Anonymous-Seite zu folgen. Das ist nicht leicht, denn einen wirklich offiziellen, von allen anerkannten Account hat die in viele Untergruppen und Mitglieder zersplitterte Anonymous-Bewegung nicht. Es gibt nur ihr mehr oder weniger nahestehende Kanäle.

In Deutschland stießen viele Nutzer auf einen schlicht "Anonymous" betitelten Facebook-Account, mit der URL facebook.com/Anonymous.Kollektiv/, der sich selbst in Berlin verortet. Wahrscheinlich ist vielen Nutzern dabei nicht bewusst, wem sie mit ihrem Klick zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen.

Pegida, Russland, "Lügenpresse"

Anonymous.Kollektiv hat schon seit Langem so gut wie nichts mehr mit der Anonymous-Bewegung zu tun - außer dem Namen natürlich. Auf der Seite wird Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht, Russland glorifiziert, mit Pegida sympathisiert und gegen die angebliche "Lügenpresse" gewettert.

Hier einige Beispiele für Postings von Anonymous.Kollektiv zum Durchklicken:

Fotostrecke

Facebook-Seite: Zitate von Anonymous.Kollektiv

Wie unter anderem der Journalist Andreas Rickmann in seinem Blog bemerkt , hat Anonymous.Kollektiv in jüngster Zeit jede Menge neue Fans bekommen. Zahlen von Facebook zufolge kamen binnen einer Woche mehr als 400.000 "Gefällt mir"-Angaben hinzu.

LeFloid hat halb so viele Fans

Stand Freitagabend hat die Seite 1,4 Millionen Facebook-Fans, was auch die Seite "Netz gegen Nazis" als Anlass für einen Erklärtext  genommen hat. Das Wachstum lässt sich neben dem aktuellen Nachrichtenbezug mit den Logiken von Facebook erklären: Wird dort eine Seite größer und beliebter, steigt die Chance, dass noch mehr Nutzer von ihr erfahren, etwa durch Likes von Freunden.

Auch wenn sich unter den 1,4 Millionen Fans möglicherweise Fake-Accounts oder nicht mehr aktive Nutzer befinden, ist die Zahl für deutsche Verhältnisse hoch. Zum Vergleich: SPIEGEL ONLINE hat derzeit knapp 970.000 Facebook-Fans, der bekannte YouTuber LeFloid 654.000.

Sammelort für Verschwörungstheoretiker

Online weisen schon lange zahlreiche Medien, Blogs und Forennutzer darauf hin, dass Anonymous.Kollektiv eher ein Sammelort für Verschwörungstheoretiker ist als eine Nachrichtenquelle rund um Anonymous. Immer wieder bewirbt Anonymous.Kollektiv zum Beispiel Inhalte des russischen Auslandssenders "RT Deutsch" und von "Compact". Letzteres Magazin erscheint mit Titeln wie "Die Königin der Schlepper" (gemeint ist Angela Merkel) und "Fremd im eigenen Land: Wie wir unsere Heimat verlieren".

Welchen Unsinn Anonymous.Kollektiv bisweilen verbreitet, lässt zum Beispiel das anonym betriebene Watchblog "We Watch Fake Anonymous " erahnen, das immer wieder einzelnen Postings der Seite hinterherrecherchiert.

SPIEGEL ONLINE berichtete im April 2014 über Anonymous.Kollektiv, als die Seite zum "digitalen Guerillakrieg auf den Facebook-Seiten deutscher Medien" aufrief.

Die Facebook-Seite reagierte auf ihre Art. Sie behauptete, der Autor sei "Spiegel-Praktikant" - er ist in Wirklichkeit Ressortleiter - und veröffentlichte ein Foto von ihm, sowie seine berufliche Telefonnummer und seine E-Mail-Adresse.

Was gegen einen echten Anonymous-Bezug spricht

Nun kann man natürlich argumentieren, bei einer auf Anonymität basierenden Bewegung wie Anonymous wisse man ja grundsätzlich nicht, wer dahintersteckt. Das stimmt. Dagegen, dass Anonymous.Kollektiv mittlerweile noch etwas mit Netzbewegung zu tun hat, sprechen aber mindestens vier Argumente:

  • An vielen Orten im Netz distanzieren sich Aktivisten im Namen von Anonymous unmissverständlich von der Seite und ihrer politischen Ausrichtung - schon seit Langem. Früher hatte die Seite noch klare Anonymous-Bezüge, mittlerweile nicht mehr.
  • Typische Anonymous-Themen - zum Beispiel der Kampf gegen Internetzensur und gegen Scientology - fristen auf der Seite von Anonymous.Kollektiv ein Schattendasein.
  • Anonymous-Aktivisten attackieren in der Regel nur selten Medien. Im Gegenteil: Das Kollektiv setzt sich für Informations- und Pressefreiheit ein. Nicht zuletzt hilft die Presse wie die sozialen Netzwerke den Aktivisten dabei, ihre Aktionen und ihre Proteste in die Öffentlichkeit zu transportieren. Anonymous.Kollektiv dagegen verbreitet das Bild der "Lügenpresse".
  • Während Anonymous prinzipiell für die Meinungsfreiheit kämpft, werden bei Anonymous.Kollektiv fleißig Meinungen aussortiert: Wer etwa anzweifelt, dass die Seite wirklich im Geiste der Anonymous-Bewegung handelt oder Belege dafür liefert, dass Beiträge falsche Fakten oder leere Behauptungen enthalten, dessen Postings verschwinden oft recht schnell. Mitunter wird bei kritischen Nutzern auch gleich der Account für die Seite blockiert.

Wer sich also für Verschwörungstheorien, Pegida-PR und "Lügenpresse"-Bashing interessiert, der wird bei Anonymous.Kollektiv verlässlich mit Aufreger-Material beliefert. Wer aber etwas über die Online-Aktionen von Anonymous erfahren will, tut der eigentlichen Bewegung wohl keinen Gefallen, wenn er diese Facebook-Seite mit "Gefällt mir" markiert und ihr so noch mehr Aufmerksamkeit verschafft.


Zusammengefasst: Die Facebook-Seite Anonymous.Kollektiv hat in den letzten Tage Hunderttausende Facebook-Fans hinzugewonnen. Wer Fan der Seite wird, sollte wissen, dass sich viele Mitglieder der Netzbewegung Anonymous seit Langem davon distanzieren. Es handelt sich bei Anonymous.Kollektiv mittlerweile eher um ein Sammelbecken für Verschwörungstheorien, gewürzt mit PR, etwa für Pegida oder das Magazin "Compact".


Update, 8. Dezember 2015: Aufgrund vieler Leserhinweise und weil es wir es bei vielen Themen selbst beobachten konnten, haben wir bei den Stichpunkten am Textende den vierten Punkt "Umgang mit Kommentaren" ergänzt. Außerdem wurde die Klickstrecke aktualisiert.

Update, 21. Januar 2016: In den Text wurde ein Hinweis auf "We Watch Fake Anonymous" eingebaut. Außerdem wurde die Klickstrecke aktualisiert.

mbö