Leidenschaftlicher Forscher und Gentleman

Gottfried Schatz war ein eminenter Biochemiker – er war aber auch ein Aufklärer und Essayist, der ausserhalb der akademischen Welt wirkte. Am 1. Oktober ist er 79-jährig gestorben.

Susan Gasser
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Gottfried Schatz beteiligt sich am NZZ-Podium im Jahr 2007 an der Diskussion. (Bild: Mirjam Graf / NZZ)

Gottfried Schatz beteiligt sich am NZZ-Podium im Jahr 2007 an der Diskussion. (Bild: Mirjam Graf / NZZ)

Gottfried «Jeff» Schatz war stolz darauf, Chemiker zu sein – und zwar im klassischen Sinn: Studiert hatte er physikalische Chemie, eine Disziplin, in welcher der Geruch und der Geschmack der Chemikalien als Wegweiser zur wissenschaftlichen Erkenntnis ebenso wichtig sind wie hochpräzise Messverfahren. 1936 in Strem, im österreichischen Burgenland, geboren, besuchte er zunächst die Universität Graz und setzte sein Studium in Wien und New York fort; in den Vereinigten Staaten trat er auch seine erste Dozentur an der Cornell University in Ithaca, New York, an. Seine brillante Karriere machte er dann jedoch als Biochemiker, in dem Fach, das er mehr als ein Vierteljahrhundert lang, von 1974 bis 2000, an der Universität Basel unterrichtete. In dieser Disziplin griff er zwei fundamentale Fragen der Zellbiologie auf: «Woher kommt der Motor, der in unseren Zellen Energie produziert?» und «Wie sind diese Organellen, die sogenannten Mitochondrien, beschaffen?»

Ein luzider Geist

Im Verlauf von fünfunddreissig Jahren wurde Schatz' Name nachgerade ein Synonym für das Konzept der «mitochondrialen Biogenese», der Bildung neuer Mitochondrien in einer Zelle. Begriffe, hinter denen sich scheinbar unendliche Komplexitäten verbargen, wurden dank Gottfried Schatz' rasiermesserscharfer Intuition und seinen luziden Erklärungen einfach und transparent. Von der ersten Doktorandin, die er betreute, bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit studierte Schatz Mitochondrien in knospenden Hefezellen – den Organismen, die wir beim Bierbrauen und Brotbacken brauchen.

Die Backhefe ist vor allem im Zusammenhang mit genetischen Studien bekannt. Gottfried Schatz war sich der Tragweite solcher genetischer Studien bewusst, verwendete aber biochemische Methoden, um das Zusammenspiel zweier Genome, des mitochondrialen Genoms und des Kern-Genoms, zu dechiffrieren – und damit die Mechanismen, die es erlauben, dass sich die in diesen Genomen codierten Proteine zu einem eleganten System zusammenfügen, das den Energieträger Adenosintriphosphat (ATP) produziert. Dieses System besteht aus einer Kaskade von Enzymen, die Energie aus der Oxidation von Zuckern und Fetten absorbiert und einen hochenergetischen Metaboliten, das ATP, erzeugt, der alle anderen Reaktionen innerhalb der Zelle antreibt.

Selten ist ein wissenschaftliches Feld in so unerhörtem Ausmass von einer einzigen Persönlichkeit geprägt worden. Die Eleganz und die Logik von Gottfried Schatz' Arbeit waren so zwingend, dass die Resultate aus seinem Labor jeweils schon kurz nach ihrer Publikation in Lehrbücher aufgenommen wurden. Natürlich war er nicht der Einzige, der auf dem Gebiet der mitochondrialen Biogenese forschte. Die Entdeckungen aus Schatz' Labor wurden von der Forschung Walter Neuperts, eines äusserst erfolgreichen, in München wirkenden Biochemikers, angestossen, der ein ähnliches Phänomen in einer verwandten Pilzgattung studierte. Aber selbst Walter Neupert dürfte von der Eleganz von Schatz' Experimenten, der Einfachheit seiner Erklärungen und der Zugänglichkeit, mit der er komplexe Phänomene darzustellen wusste, beeindruckt gewesen sein.

Welches waren die Entdeckungen, die Gottfried Schatz machte? Zunächst wies er zusammen mit Ellen Haslbrunner, seiner ersten Doktorandin, mittels biochemischer Methoden nach, dass Mitochondrien DNA enthalten, dass also die von einer Membran umhüllten Organellen ihr eigenes Genom in sich tragen. Er zeigte auf, dass Mitochondrien nicht de novo entstehen, sondern dass sie sich selbst reproduzieren: Proteine, die in den Mitochondrien codiert und hergestellt werden, verbinden sich mit anderen, deren Baupläne im Kern-Genom liegen und die im Zellplasma zusammengebaut werden. Durch diesen Prozess entstehen die energieerzeugenden Organellen – die «Kraftwerke der Zellen», die uns allen das essenzielle «Feuer des Lebens» schenken, wie Schatz es zu nennen pflegte.

Ebenfalls mithilfe biochemischer Methoden fand Schatz heraus, dass nur gerade dreizehn Proteine im mitochondrialen Genom codiert sind. Der Rest der Protein-Maschinerie, welche den Energiestoffwechsel zu bewältigen hat, muss aus dem Zytoplasma importiert, verarbeitet und in den mitochondrialen Apparat integriert werden. Schatz' Vorgehen entsprach der klassischen Biochemie: Er arbeitete mit Fraktionierung und Rekonstitution, mit quantitativen und molekularen Methoden, aber mit diesen Mitteln vermochte er viele grundlegende Prinzipien der Zellbiologie zu erklären. Schritt für Schritt fand sein Labor heraus, was es mit den komplexen Mechanismen auf sich hat, die zusammen eines der elegantesten Systeme der Biologie konstituieren: die aus zwei Membranen, zwei Hohlräumen und einer asymmetrischen räumlichen Anordnung bestehende Elektronentransport-Kette, die unabdingbar für jedes Funktionieren der Zellen ist. Ich erinnere mich, mit welcher Sorgfalt er mir die Grundprinzipien der Enzymologie (der Lehre von den Enzymen) und Christian de Duves Zellfraktionierung vermittelte. Mit jedem Studenten, den er unterrichtete, jeder Graduierten, die er betreute, mass er in seinem Labor das neue Feld der molekularen Zellbiologie aus.

Wissen teilen

Gottfried Schatz' Begabung war ausserordentlich. Es war die Begabung eines Künstlers – Schatz spielte Geige auf professionellem Niveau; und vielleicht hat das Erkenntnisvermögen, das ihn zu einem exzellenten Musiker machte, ihn auch dazu befähigt, die Komplexität der Biologie mit bestechender Einfachheit darzulegen. Vor allem aber war er leidenschaftlich und zugewandt; er war ein Gentleman, dessen exquisite Umgangsformen wie ein Echo längst vergangener Zeiten anmuteten. Und er glaubte bedingungslos daran, dass ein grosser Geist wie der seine jede Erkenntnis über den Reichtum des Lebens mit so vielen Menschen wie nur möglich teilen sollte. Neben denjenigen, die er in seinem Labor unterrichtete, schulte Gottfried Schatz zahllose junge Wissenschafter in der Kunst des scientific talk; in seinen eigenen Vorträgen und Aufsätzen bot er sein Fachwissen einem breiten Publikum auf zugängliche, aber nie anspruchslose Art dar; und er war bemüht, Führungskräfte in Politik, Wirtschaft und in der akademischen Welt über das eigentliche Wesen und das Wagnis der Wissenschaft aufzuklären. Indem er das Bewusstsein für die enorme Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse im modernen Leben schärfte, strahlte sein Wirken auf ganz Europa aus.

Für Gottfried Schatz waren Kultur und Wissenschaft ein und dasselbe; er sah Kreativität als eine Gabe, die immer Hege und Förderung verdient. Seine Fähigkeit, zugleich kritisch und verständnisvoll über Forschung und akademisches Bildungswesen zu schreiben, machte ihn zu einer einzigartigen Erscheinung unter den Wissenschaftern unserer Zeit. Die ganze Wissenschaftswelt – nicht nur die schweizerische – hat mit ihm eine ihrer bedeutendsten Stimmen verloren.

Susan M. Gasser, Direktorin des Friedrich-Miescher-Instituts für biomedizinische Forschung der Universität Basel, war Doktorandin bei Gottfried Schatz. Aus dem Englischen von as.